Kommt Simon Rattle? Oder der Überflieger Yannick Nézet-Séguin? Seit dem Tod von Mariss Jansons ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auf der Suche nach einem Nachfolger. Von den Aspiranten wird mehr erwartet als brillantes Musizieren.

Stuttgart -  Eigentlich hätte Mariss Jansons in diesen Wochen bei den Salzburger Festspielen seine Karriere krönen können. Erstmals wollte er Modest Mussorgskys große Choroper „Boris Godunow“ dirigieren, am Pult der Wiener Philharmoniker, mit denen er drei legendäre Neujahrskonzerte im Wiener Musikverein gestaltet hatte. Doch sein plötzlicher Tod im Dezember 2019 vereitelte dieses von Musikfreunden in aller Welt mit Spannung erwartete Ereignis. Seitdem ist Jansons’ Stammensemble, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO), auf der Suche nach einem Nachfolger. Gute Karten könnte ein in Deutschland wohlbekannter Brite haben: Sir Simon Rattle.

 

Zwar ist derzeit wegen der Corona-Pandemie kein regulärer Konzertbetrieb möglich, aber Rattle war in der abgelaufenen Rumpfsaison gleich dreimal in München zur Stelle, was von Beobachtern als Zeichen gewertet wurde, dass der frühere Chefdirigent der Berliner Philharmoniker in München zu den wichtigsten Thron-Aspiranten zählt. In den vergangenen Jahren musizierte er regelmäßig hier, begann sogar einen konzertanten Zyklus mit Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ – „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ stehen noch aus.

BR-Intendant ist ein Klassikfan

Doch noch ist alles Spekulation. Sicher scheint nur, dass der neue Chef des BRSO noch während der 2021 zu Ende gehenden Amtszeit von BR-Intendant Ulrich Wilhelm bestimmt werden soll. Potenzielle Kandidaten für das Chefdirigenten-Amt würden derzeit intern ermittelt, verlautet offiziell aus dem Sender. Dem bekennenden Klassikfan Wilhelm sei „hier eine sorgfältige Abstimmung mit den Musikerinnen und Musikern des Symphonieorchesters wichtig. Es ist davon auszugehen, dass im Laufe der nächsten Monate eine Entscheidung gelingt“.

Aus dem Orchester ist zu hören, dass die Zusammenarbeit mit Rattle sehr gut funktioniere. Pluspunkte sind auch Rattles Faible für Kinder- und Jugendprojekte zur Generierung eines jüngeren Publikums sowie seine mediale Präsenz. Denn der von Jansons angeschobene neue Münchner Konzertsaal scheint trotz des jüngsten Bekenntnisses des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) zum Bau des Musentempels nicht wirklich in trockenen Tüchern zu sein, zumal mit Corona die öffentlichen Budgets dahin schmelzen. Da erhoffte man sich von Rattle, der sich gerade selbst als Chef des London Symphonie Orchestra für einen neuen Konzertsaal in der Themse-Metropole engagiert, tatkräftige Unterstützung.

Ein anderer Aspirant, den viele im Orchester für noch zukunftsträchtiger halten als den immerhin schon 65-jährigen Rattle: der 45-jährige Kanadier Yannick Nézet-Séguin, derzeit Musikchef der New Yorker Metropolitan Opera und Inhaber weiterer Chefposten in Philadelphia und Montreal. Doch ein zusätzlicher Job in Europa wäre selbst für den notorisch viel beschäftigten Überflieger, der sich gerne in schrillen Anzügen zusammen mit seinem Lebenspartner Pierre Tourville präsentiert, kaum denkbar.

Ein Medienstar als Schutzschild

Sofort verfügbar wäre dagegen Franz Welser-Möst, seit 2002 Musikdirektor des Cleveland Orchestra. Der Österreicher, der gerade bei den Salzburger Festspielen mit Richard Strauss’ „Elektra“ eine Probe seines Könnens ablieferte, zählt neben dem Briten Daniel Harding ebenfalls zu möglichen Jansons-Nachfolgern. Welser-Möst versprüht zwar wenig Glamour, ist dafür aber ein sehr ernsthafter und versierter Kapellmeister. Ein wenig erinnert er an Sir Colin Davis, den stillen, noblen Briten, der von 1983 bis 1992 das Bayrische Symphonieorchester leitete und die Münchner mit Komponisten seiner Heimat bekannt machte.

Doch das Orchester scheint eher darauf bedacht zu sein, seine internationale Bedeutung mit einem global tätigen Medienstar unterstreichen zu wollen. Nicht zuletzt, um mögliche Diskussionen einer Zusammenlegung von Symphonieorchester und Rundfunkorchester im Keim ersticken zu können. Denn die im Zuge der Pandemie sich verschärfenden Sparzwänge erfassen auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der neue Chef soll wohl auch ein Schutzschild gegen den Ausverkauf sein.