Ein Jahr ist es her: Der Amoklauf eines psychisch kranken Schülers mit zehn Toten versetzt ganz München in einen Ausnahmezustand. An zahlreichen Orten der Stadt entsteht Panik, ohne dass es dort eine Bedrohungslage gibt. Was hat die Polizei daraus gelernt?

München - Dutzende Schüsse mitten in einem belebten Einkaufszentrum. Vor einem Jahr, am 22. Juli 2016, erschoss der 18-jährige David S. am Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen und dann sich selbst. Der Amoklauf versetzte die ganze Stadt in Aufruhr. Von zahlreichen Orten wurden Schüsse gemeldet, an denen es keine gab. Die Deutsche Presse-Agentur sprach mit dem Pressesprecher der Münchner Polizei, Marcus da Gloria Martins, der in dieser Nacht den Einsatz begleitete.

 
Herr da Gloria Martins, auch ein Jahr danach scheint es unwirklich: Wie konnte die Lage in der Stadt so eskalieren und eine solche Panik entstehen?
Da Gloria Martins: Das bedarf eigentlich einer gesonderten wissenschaftlichen Untersuchung. Es gab nicht den einen universellen Grund. Es gab eine gewisse Verunsicherung nach den islamistischen Anschlägen von Paris, Brüssel, Nizza, und dann auch Würzburg. Aber ich glaube nicht, dass es tatsächlich Angst war, die nur durch die Befürchtung getriggert wurde: Da kommt gleich ein Terrorist um die Ecke. Es war ein Gemenge vieler Aspekte und ein kollektives Phänomen. Einer fängt an zu laufen - und jeder, der das sieht, läuft mit. Das hat eine infektiöse Wirkung - wenn es eine entsprechende Grundlage gibt.
Was war denn wirklich an diesen gut 70 anderen Orten los, von denen die Menschen Schüsse und Tote gemeldet haben?
An diesen sogenannten Phantom-Tatorten gab es absolut nichts Gefährliches. Es genügte aber ein Minimalreiz, um beim Einzelnen den Schalter umzulegen und ihn Dinge als Bedrohung empfinden zu lassen, die völlig harmlos sind. Das waren zum Beispiel herunterfallende Tabletts in einer Gaststätte oder eine umstürzende Aluleiter in einem Geschäft. Beides wurde als Schüsse gewertet. Von all diesen 73 vermeintlichen Tatorten kam von Bürgern unisono die Darstellung: Schüsse, Verletzte, Tote. Es hat nicht ein Einzelner überreagiert, es gab nicht nur einen Anruf pro Tatort, sondern oft mehrere.
Wenn Menschen so leicht massenhaft in Panik geraten, haben dann Terroristen erreicht, was sie wollten: Tiefe Verunsicherung?
Nein. Auch wenn es hier kein Terror war: Die Bevölkerung ist zusammengerückt, die Menschen haben sich gegenseitig Schutz gewährt und sich ähnlich wie in Manchester gegenseitig geholfen. Das ist das Gegenteil dessen, was Terroristen gemeinhin erreichen wollen.
Es hieß, der schnelle Austausch über soziale Medien oder Messengerdienste wie WhatsApp habe zur Eskalation beigetragen. Wie sehen Sie das?
Die sozialen Netzwerke waren nicht allein der treibende Motor, sondern mehr eine Art Fieberthermometer für das, was sich unter der Oberfläche abgespielt hat. Sie haben Gerüchte eher sichtbar gemacht, als dass sie selbst die Quelle dafür gewesen wären. Es war vor allem die unreflektierte Verteilung von Informationen in Messengerdiensten. Das Problem hier: Die Nachricht kommt von Absendern, denen ich als Empfänger vertraue, weil ich sie kenne. Aber ich sehe nicht, ob der Absender sie selbst geschrieben oder nur weitergeleitet hat. Wir haben im Rückblick viele Hinweise darauf, dass gerade in Messengerdiensten unglaublich viele falsche oder falsch gedeutete Informationen verbreitet worden sind.
Wie wollen oder können Sie darauf reagieren?
Die Frage ist: Wie weit sind wir überhaupt in der Lage, dieses Phänomen einzudämmen? Denn es findet im Kopf des Einzelnen statt. Was wir brauchen, ist ein neues Problembewusstsein. Das da heißt: Ich verbreite nicht alles durch Teilen in die Welt, was ich gerade bekomme, mag es noch so sensationell oder erschreckend sein. In die Köpfe muss eine Sicherung rein.
Die Münchner Polizei hat nach dem Amoklauf viel Lob bekommen - trotzdem haben Sie ein Jahr lang den Einsatz aufgearbeitet. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Ein Thema ist die sachgerechte Ausstattung der Beamten. Unter anderem bekommen wir eine neue Dienstwaffe mit größerem Magazin, 16 Schuss statt bisher acht. Wir hatten es ja mit einem Täter zu tun, der 300 Schuss in seinem Rucksack dabei hatte. Wir haben jetzt zudem einen polizeiinternen Messenger im Test, um Täterbilder schnell an alle Einsatzkräfte weiterzugeben. Außerdem haben wir bei der Betreuung von Opferfamilien und Zeugen den interkulturellen Aspekt unterschätzt. Wir hatten Opfer mit verzweigten Familienverhältnissen und einer anderen Trauerkultur. Wir werden uns breiter aufstellen, was die Vielschichtigkeit der Persönlichkeiten und Identitäten angeht, die in unserer Stadt leben.
Gibt es auch Änderungen in der Einsatzkonzeption?
Wir bauen sie um und vermitteln schon in der Aus- und Fortbildung, dass wir am Anfang eines Einsatzes nur noch von lebensbedrohlichen Lagen sprechen. Vorher wurde unterschieden zwischen Amok, Terror und diversen anderen Lagen. Das wollen wir nicht mehr. Denn die Strategien sind in der ersten Phase ähnlich. Das taktische Vorgehen gegen einen Terrorverdächtigen oder einen Amokläufer hat große Gemeinsamkeiten. Entscheidend ist, wie der Einsatz in den ersten Minuten aufgezogen wird.
Haben Sie persönlich heute ein anderes Sicherheitsempfinden?
Nein, hab ich nicht. Als jemand, der im Sicherheitsapparat arbeitet, habe ich es allerdings sehr leicht zu sagen: Ich kenne die Fakten, ich kenne das Risiko, ich kenne die Wahrscheinlichkeit - und die ist so gering, dass ich kein eingeschränktes Sicherheitsgefühl habe. Zudem wird oft vergessen, dass die Polizei nicht nur in Bayern schon viele zum Teil weit gediehene Anschlagspläne vereitelt hat.
        

Zur Person

Marcus da Gloria Martins (44) leitet seit Oktober 2015 das Presseteam der Münchner Polizei. Zuvor war er im Rauschgiftbereich, als ziviler Fahnder, Dienststellenleiter der Verkehrspolizeiinspektion und als einfacher Streifenpolizist unterwegs. Nach der Amoknacht wurden er und sein Team mehrfach ausgezeichnet, zuletzt bekam da Gloria Martins im April für seine Krisenkommunikation die Theodor-Heuss-Medaille. Da Gloria Martins hat zwei Kinder, wuchs im Rheinland auf und hat portugiesische Wurzeln.