Sie sollten mehr für ihre eigene Verteidigung tun, fordert Washington seit Jahren von der EU. Kaum tun sie etwas, schlägt den Europäern wegen ihrer eigenständigen Anstrengungen Skepsis entgegen, wie sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz zeigt.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

München - Der erklärte Wille der führenden europäischen Nationen, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen, zieht sich seit Jahren wie ein roter Faden durch die Münchner Sicherheitskonferenzen. US-Präsident Donald Trump hat diesen Trend mit einer widersprüchlichen Haltung zur Nato und seiner lauthals geäußerten Abneigung, weiter als globale Ordnungsmacht zu agieren, massiv verstärkt. Die globalen Krisen tun ein Übriges für die Erkenntnis: Europa muss sich um sich selbst kümmern.

 

Um sich von den USA unabhängiger zu machen, bereiten 25 der 28 EU-Staaten den Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion vor. Nur Großbritannien, Dänemark und Malta bleiben außen vor. Dazu wurde im Vorjahr die „ständige strukturierte Zusammenarbeit“ – kurz Pesco (Permanent structured cooperation) – begründet. Für eine Liste von 17 Startprojekten hat im Dezember der Europäische Rat grünes Licht gegeben. Die Bereitschaft, in die Offensive zu gehen, müsste für das transatlantische Bündnis eigentlich ein gutes Zeichen sein. „Die Europäer verstärken ihre Anstrengungen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten“, lobt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am ersten Tag der 54. Münchner Sicherheitskonferenz.

EU-Länder kommen Zwei-Prozent-Ziel immer näher

Seit nunmehr drei Jahren würden die Verteidigungsausgaben in Europa wieder steigen. Noch vor vier Jahren hätten lediglich drei Bündnispartner das gemeinsame Ziel bis 2014, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Sicherheit auszugeben, erfüllt. In diesem Jahr werden es voraussichtlich acht Nationen sein und in sechs Jahren „mindestens 15“. Die Allianz sei zwar nicht mehr so stark wie früher, habe sich aber als belastungsfähig erwiesen. Dies zeigten sowohl die Amerikaner als auch die Kanadier, die mit eigenen Soldaten und Panzern nach Europa zurückkommen. „Das transatlantische Bündnis ist die wirkungsvollste Allianz, die wir auf der Welt jemals hatten.“

Dennoch sieht Stoltenberg erhebliche Risiken: Die EU solle sich als Ergänzung zur Nato sehen, nicht als Alternative, warnt er vor einem Wettbewerb der Systeme. „Die EU-Verteidigungsausgaben können die Nato stärken – wenn sie im Bündnis bleiben“, betont er. Zudem dürften die Nicht-EU-Mitglieder der Nato nicht diskriminiert werden. Schließlich würden nach dem Brexit 80 Prozent der Nato-Verteidigungsausgaben von diesen Ländern bezahlt – wobei die Briten nach allgemeiner Einschätzung eng mit der EU-Verteidigungsarchitektur verbunden bleiben wollen.

Die Angst vor Parallelstrukturen

Auch dem früheren General des US European Command (Saceur), James Stavridis, ist nicht wohl beim Gedanken an die mögliche „Doppelarbeit“ von EU und Nato. Soll etwa eine neue Kommandostruktur neben der bestehenden errichtet werden? „Da müssen wir vorsichtig sein“, mahnt er.

Parallelarbeit hält der republikanische US-Senator Lindsey Graham ebenso für einen Grund zur Sorge. Dennoch vertraut er anders als früher darauf, dass die europäische Verteidigungsmacht keine Konkurrenz zu den USA darstelle. Wenn die EU von der zivilen Seite her mehr zur Verteidigungsunion beitrage, etwa bei den Cyberfähigkeiten, dann würde sie auch die gemeinsamen Fähigkeiten stärken, hofft Graham. „Dann bringen Sie sich wieder zurück ins Spiel.“ Je einiger man sich an der Stelle sei, desto besser könne er dies gegenüber Präsident Trump vertreten.

Ein wenig absurd wirkt es schon: Da tun die Europäer etwas – dann soll das auch nicht richtig sein? Der Chef der europäischen Verteidigungsagentur, Jorge Domecq, versucht zu vermitteln. Er sieht Pesco als wichtigen Schritt für EU und Nato. Dies sei aber keine neue Idee, sondern das Wiedererwachen eines alten Verständnisses. Doppelarbeit habe er jedenfalls noch nicht festgestellt.

Von der Leyen will eine sinnvolle Arbeitsteilung

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat zuvor versprochen, dass Europa militärisch mehr Gewicht aufbringen will. Doch bemängelt sie zugleich, dass „bei manchen Partnern die Mittel für Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und die Vereinten Nationen immer weiter zurückgefahren werden“. Folglich rief sie den US-Präsidenten zum stärkeren Engagement auf diesem Feld auf: Entwicklungshilfe sei ein „hartes must“, kein „nice to have“. Eine Arbeitsteilung, wonach die USA nur für das Militärische und die EU für die humanitären Folgen zuständig sei, lehnt sie ab.

Bei von der Leyens Gegenoffensive schwingt mit, dass Deutschland sein Zwei-Prozent-Ziel nicht nur an den Militärausgaben bemessen will. Anders als die französische Kollegin Florence Parly (bis 2025) will die geschäftsführende Verteidigungsministerin kein Zieldatum benennen. Man sei bereit zu einem größeren Beitrag, aber auch die Vereinten Nationen müssten gestärkt werden, sagt sie ausweichend.

Poroschenkos flammender Appell

Wenn einer ein Interesse an EU und Nato zugleich hat, dann der ukrainische Präsident Petro Poroschenko: „Lassen Sie die Tür offen für die Ukraine“, bittet der Münchner Dauergast in einem flammenden Appell, sich jetzt nicht vom Ostukraine-Konflikt abzukehren. Der „russischen Aggression“ entgegenzutreten, sei ein „Lackmustest der freien Welt“. Der Kreml destabilisiere Europa und überziehe die Welt mit einem Cyberkrieg.

Bei den Balten finden Poroschenko allemal Verständnis: An die Adresse von Kiew gerichtet, meint der estnische Verteidigungsminister Jüri Luik: „Seid geduldig und seid bereit: Wenn ihr die Chance seht, müsst ihr sie ergreifen.“ Irgendwann werde die Ukraine der Nato beitreten, glaubt er.

Die transatlantischen Meinungsdifferenzen scheinen das Interesse der Amerikaner an der Sicherheitskonferenz nicht zu schmälern. Die US-Administration sei „mindestens so massiv vertreten wie in den letzten Jahren“, freut sich Konferenzchef Wolfgang Ischinger. Ein halbes Dutzend von (stellvertretenden) Ressortchefs, angeführt von Verteidigungsminister James Mattis, tritt diesmal in München auf.

Die knallharte Anklage des früheren US-Vizepräsidenten

Am späten Freitagabend betritt ein früherer Mann der ersten Reihe, Obamas Vize-Präsident Joe Biden, das Podium. Mehrfach schon war der Demokrat, der heute in Pennsylvania lehrt, in München. Er hat sich oft unmissverständlich zu Russland geäußert – diesmal wählt er besonders harte Worte: „Putin tut alles, um das transatlantische Bündnis und die internationale liberale Ordnung zu zerstören“, hebt Biden an. Es gehe den Russen um Selbsterhalt – um ihre eigenen Interessen. Es sei für sie leichter, den Westen anzugreifen, als sich um die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Brüche ihres eigenen Systems zu kümmern. „Dies ist ein Land im Niedergang – wenn man das im historischen Vergleich sieht.“ Der Kreml versuche, die Aura der Unbesiegbarkeit zu vermitteln. „Es handelt sich um nichts mehr als Schwäche, die sich als Stärke tarnt.“

Immer wieder hätten die USA beobachtet, „wie Russland seine Macht missbraucht“. Energielieferungen würden manipuliert, um Druck auf andere Länder auszuüben. Informationstechniken würden verfeinert, damit „Demokratien von innen heraus ausgehöhlt werden“. „Dahinter stecken Absicht und Heimtücke“, sagt Biden. „Wenn wir nicht erkennen, wie ernst der Angriff auf die Demokratie ist, gefährden wir die Zukunft.“

Das Gespräch mit Russland nicht unterlassen

Der frühere Vizepräsident empfiehlt die Einrichtung einer internationalen Kommission, um die „üblen Aktivitäten“ des Kremls im Cyberraum, bei Wahlmanipulationen oder im Geldwäschegeschäft aufzudecken. Für diese Idee habe er bei diversen Gesprächen echtes Interesse gefunden. „Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Russland zur Verantwortung gezogen wird für Verletzungen des Völkerrechts.“

Allerdings rät Biden auch, weiterhin mit Russland zu reden. Selbst im Kalten Krieg seien solche Kanäle genutzt worden. Wo sich die Interessen überschnitten, müsse man einen Weg finden, zu kooperieren. Auch an die russische Bevölkerung sei dabei zu denken. Es gelte, aktiver zu sein bei der Informationspolitik – nicht mit Propaganda, sondern um den Russen die Wahrheit zu sagen: Dass es um eine kleine Gruppe im Kreml gehe, die ihre eigenen Interessen schützen wolle. Er hätte nie gedacht, „dass ich diesen nackten Nationalismus noch mal sehen würde und diesen falschen Populismus“, beschließt Biden. Dies allerdings bezieht er wohl auch auf sein eigenes Land und die Nachfolger in Washington.

Nach diesem starken Auftritt folgt – eine Spezialität des Sicherheitsgipfels – die erste „Night owl session“ (Nachteulensitzung) der Konferenz. Dabei denken Spitzenpolitiker kurz vor Mitternacht noch über die Weltlage nach. Diesmal sind sie hellwach.