Die Mutterliebe gilt als zeitloses Phänomen. Doch ist sie wirklich so alt wie die Menschheit selbst? Oder ist das Bild der Frau mit angeborenem Mutterinstinkt und Opferbereitschaft ein soziales Konstrukt, das erst in der Neuzeit entstanden ist?

Sie ist immer für ihre Kinder da, sie tröstet sie, ist sanftmütig und liebevoll. Alles, was ihr vor der Mutterschaft einmal wichtig war, steht jetzt hintenan – genauso wie ihre eigenen Bedürfnisse. All das macht sie gerne. Ja, mehr noch: Sie kann gar nicht anders.

 

Das Bild der guten Mutter mit angeborenem Mutterinstinkt und Opferbereitschaft ist tief in unseren Köpfen verankert. Doch woher kommt diese Vorstellung, die heutige Mütter enorm unter Druck setzen kann?

Wirft man einen Blick zurück in die Geschichte, wird schnell klar: Die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern waren nicht immer so stark wie heute, vielmehr waren sie oft von Distanz und emotionaler Zurückhaltung geprägt.

Ein Grund für das kühle Verhältnis war sicherlich die hohe Kindersterblichkeit, die man bis zum Einzug der modernen Medizin aushalten musste. Die meisten Mütter konnten froh sein, wenn sie die im Schnitt zehn Geburten überlebten und wenigstens jedes zweite ihrer Kinder das Babyalter einigermaßen überstand.

Im Mittelalter waren nicht Mütter das Ideal, sondern Nonnen, die sich für ein keusches Leben ohne Familie entschieden hatten. Auch der Adel hielt sich tunlichst von der Kindererziehung fern. Die Mutterschaft, die Beziehung zu einem Baby, das Stillen – all das galt im 17. Jahrhundert als animalisch und primitiv.

So brachten die Aristokratinnen ihre Kinder in die Obhut von Ammen. Im 18. Jahrhundert ging dieser Trend auch auf das Bürgertum über. Hatten die Ammen jedoch nicht genug Milch, bekamen die Zöglinge Ersatznahrung, an der sie oftmals rasch verstarben. Da die Eltern keinerlei emotionales Verhältnis zu ihren Kindern hatten, kümmerte dieses Elend die Gesellschaft wenig.

Sinkende Geburtenrate rüttelt auf

Wen es dagegen interessierte, waren intellektuelle Männer, die mit der Zeit feststellen mussten, dass die Geburtenrate sank. Der französische Philosoph und große Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, der seine eigenen fünf Kinder nach der Geburt aus ökonomischen Gründen in ein Findelhaus gab, nahm sich dieses Problems an. In seinem Erziehungsratgeber „Émile oder Über die Erziehung“ aus dem Jahr 1762 schrieb er: „Die erste Erziehung, die das Kind empfängt, ist die von der Mutter; und sie ist die wichtigste, denn sie ist diejenige, die die Natur vorgeschrieben hat.“

Im deutschsprachigen Raum war es der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der die Bedeutung der Mutter als erste Bezugsperson für das Kind betonte. In seinen Werken forderte er Frauen dazu auf, sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen und zu ihrer mütterlichen Natur zurückzufinden. Das Versprechen lautete, dass Frauen durch die Mutterschaft mehr Respekt von den Männern bekämen.

Doch die Erfüllung dieses Bildes der perfekten Mutter führte unweigerlich dazu, dass Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wurden.

Freud erhebt die Mütterlichkeit zum Instinkt

Ein weiterer Vater der Mutterliebe ist der Psychoanalytiker Sigmund Freud. Mit der Psychoanalyse revolutionierte der Österreicher Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur die Ansichten über das Unterbewusste, sondern erhob auch die Mütterlichkeit zum Instinkt.

Im Nationalsozialismus fand der Mutterkult dann seinen vorläufigen Höhepunkt: Mutterschaft wurde zu einer umfassend erfüllenden Tätigkeit erklärt, die traditionelle Familie sollte sich um diese aufopferungsvolle Mutter herum formieren.

In der feministischen Bewegung des 20. Jahrhunderts wurde die Idee erstmals kritisch hinterfragt. Frauen forderten das Recht auf Arbeit und Unabhängigkeit, und die traditionelle Rolle der Mutter als Betreuerin wurde als Unterdrückung und Einschränkung der weiblichen Freiheit betrachtet.

Die französische Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter argumentiert in ihrem Buch „Die Mutterliebe“, dass ebendiese Mutterliebe eine moderne Erfindung sei und Frauen dadurch in eine Rolle gedrängt würden, die ihrer Freiheit und Unabhängigkeit entgegenstünden.

Anlässlich einer neunfachen Kindstötung, die im Jahr 2006 vor einem Gericht in Frankfurt an der Oder verhandelt wurde, schrieb auch der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in einem Aufsatz, der Mutterinstinkt sei eine Illusion unserer individualisierten Gesellschaft.

Die Psychologin Helga Krüger-Kirn spricht in einer TV-Dokumentation gar vom Mutterinstinkt als „männliches Phantasma“. Die Mutter, wie wir sie kennen, sei demnach eine komplett konstruierte Figur. Krüger-Kirn: „Die Mutter kann stillen, das Kind sättigen, das heißt aber noch lange nicht, dass die Mutter das Kind besser herumtragen oder beruhigen kann.“

Können Männer auch gute Mütter sein?

Tatsächlich legen neurobiologische Studien nahe, dass Frauen per se keinesfalls besser geeignet sind für die Fürsorge von Kindern als Männer. Das Bedürfnis, sich um den Nachwuchs kümmern zu wollen, entstehe vielmehr aus Erfahrung und Bindung. Diese wiederum nehme Einfluss auf die Hormonproduktion.

So haben Untersuchungen ergeben, dass Väter, die sofort nach der Geburt die Pflege und Fürsorge der Babys übernehmen, einen höheren Spiegel des sogenannten Kuschelhormons Oxytocin aufweisen als Väter, die das nicht tun. Mütterliche Gefühle können also auch Väter oder andere Bezugspersonen entwickeln.

Dennoch arbeiten sich Mütter weiterhin an der Vorstellung vom natürlichen Mutterinstinkt und der perfekten Mutter ab. Die sozialen Medien unterstützen diesen Zwang zur Perfektion, indem Bilder von inszenierten, gefilterten Momenten des Lebens mit Kindern gezeigt werden.

Dabei bleibt ein eher konservatives Rollenverständnis erhalten, alternative Familienmodelle und andere Bezugspersonen in der Erziehung und Bindung zu den Kindern werden vernachlässigt.

Die heillose Überfrachtung der Mutterrolle führt zwangsläufig zu Schuldgefühlen bei vielen Frauen, die dem Idealbild nicht entsprechen können oder wollen. Die amerikanische Soziologin Amy Blackstone plädiert daher: „Den Mythos des Mutterinstinkts aufrechtzuerhalten, schadet allen Frauen. Egal, ob sie Kinder haben oder nicht.“