Zum Motto „Freiheit“ des diesjährigen Musikfests Stuttgart passte der Tyrannensturz, den Georg Friedrich Händel in seinem Oratorium „Belshazzar“ vertonte. Hans-Christoph Rademann, die Gaechinger Cantorey und glänzende Solisten machten aus dem Finale ein bejubeltes Ereignis.

Stuttgart - Am Ende steht eine große Utopie. Ein Traum davon, dass Versöhnung doch noch möglich ist. „All empires upon God depend, begun by his command they end“, singen in Georg Friedrich Händels „Belshazzar“ die Perser. Das wären heute die Iraner, die in diesem Oratorium einen alttestamentarischen Nahostkonflikt ausfechten. Ihre Gegner, die sie am Ende zwar besiegen, dann aber in die Freiheit entlassen, sind Juden und Babylonier – das wären heute Israelis und Iraker. Dass sich diese drei Völker in unseren Tagen auf einen Gott, auf eine Art zu glauben und auf eine gemeinsame friedliche Zukunft einigen könnten: Unmöglich, daran können nur Spinner glauben. Oder Künstler.

 

Dass das 1745 im Londoner King’s Theatre uraufgeführte Stück dem Musikfest Stuttgart am Sonntagabend im Beethovensaal einen spannenden, begeisternden Abschluss bescherte, lag indes nicht nur an der in ihm zu Musik gewordenen politischen Haltung und in der von Händel ausformulierten Friedenshoffnung. Nein, in diesem Konzert gelang, glaubt man dem langen Jubel des begeisterten, mit viel Regierungsprominenz durchsetzten Publikums, ein Brückenschlag ganz anderer, nicht minder wichtiger Art. Vor wenigen Tagen erst hat der Akademiechef Hans-Christoph Rademannseinem Vorgänger Helmuth Rilling bereitwillig noch einmal für einen Auftritt das Feld überlassen; jetzt hat man den (selbst nach vier Jahren immer noch ein bisschen) Neuen und sein (tatsächlich) neues Ensemble in die Arme genommen. Herzlich Willkommen, Hans-Christoph Rademann: So darf man getrost die Reaktion des Publikums übersetzen.

Händel oder Bach? Das ist hier die Frage

Dies wiederum weist auf den zweiten Brückenschlag des Abends. So wie man im Pop (zumindest für lange Zeit) nicht gleichzeitig Fan der Beatles und der Rolling Stones sein konnte, so galt (und gilt oft noch immer) im Klassikbereich bei Bach und Händel ein striktes Entweder – Oder. Hier der Größte von allen, der Übervater, der Komponist, der Gottes Gesetz und Gnade in Klänge fasste und der irgendwie immer ganz selbstverständlich da war – dort der Mann des weltlichen Theaters, dessen Werken das Sich-Verkaufen-Müssen, der Markt der Musik, eingeschrieben ist. Es spricht für sich, dass sich die Zeitgenossen Händel und Bach nie getroffen haben, obwohl dies sehr wohl möglich gewesen wäre. Und es war eigentlich folgerichtig, dass, als Rademann sich 2013 schon bei seinem Antrittskonzert in Stuttgart an Händel („Israel in Egypt“) wagte, viele Skeptiker behaupteten, das könne einfach nicht gut gehen. Der sinnenfreudige, hochdramatische Händel in einer Bachstadt, noch dazu im pietistischen Württemberg – um Himmels Willen, nein! Falsch gedacht. Mit dem vierten Händel-Oratorium hat der Leiter der Bachakademie Stuttgart nicht nur mit Händel versöhnt, sondern eine Tür ganz weit aufgestoßen – und siehe da, es ist genug Platz da für beide.

Zugegeben, Händel gehört zu jenen Komponisten, die nur gut sind, wenn sie gut gemacht werden. Dass dies jetzt der Fall war, hatte viele Gründe. Etliche davon standen mal rechts (als Babylonier und Juden), mal links (als Perser) auf der Bühne und sangen genau so, wie es Händels Chorsätzen gut tut: mit klarer Artikulation und Phrasierung, exzellenter Stimmbündelung und einem ausgeprägtem Sinn für harmonische Effekte wie für feine Abtönungen einzelner Phrasen. Andere saßen direkt vor dem Dirigenten, hielten Instrumente in Händen und zwischen den Beinen und produzierten, inspiriert von den feinen, sehr klaren Tönen der Silbermann-Truhenorgel (Michaela Hasselt), einen pastosen, gleichsam erdverwurzelten Klang. In diesen waren alle dicht eingebunden – von der ungemein energetisch auftretenden Konzertmeisterin Nadja Zwiener über die wache Schar fein phrasierender Streicher und exzellent eingebundener Bläser bis hin zu den mit weitem Ausdrucksradius agierenden Continuo-Musikern rund um den Cellisten Joseph Crouch, die Kontrabassistin Christine Sticher, den Cembalisten Boris Klein und den Lautenisten Axel Wolf. Wie diese Instrumentalisten unter Hans-Christoph Rademanns Leitung die weite Welt der Klangfarben ausdifferenzieren, ist immer wieder atemraubend, und tatsächlich arbeitet vor allem diese Qualität der Dramatik des Oratoriums zu.