Sie kommen aus aller Welt, freie künstlerische Entfaltung ist in ihren Herkunftsländern alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Jetzt treten Flüchtlinge zusammen mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen im Forum am Schlosspark auf – mit einem fantastischen Projekt.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Ludwigsburg - Als das Flüchtlingsboot, in dem Shagol Momeni im Herbst 2015 mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern saß, zu kentern drohte, mussten die Reisenden Gepäck über Bord werden. Shagol opferte seine Rubab. Die Zupf-Laute, die als afghanisches Nationalinstrument gilt, hatte er zuhause auf Festen gespielt. Das Mittelmeer verschlang das mit vielen Erinnerungen verknüpfte Stück.

 

Menschen wie den 28-Jährigen aus der Provinz Herat spannt ein ungewöhnliches musikalisches Projekt mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen zusammen. Am Mittwochabend wird es im Forum am Schlosspark aufgeführt. „Fugato: Verbotene Töne – Zehn Fabeln und ein Requiem für Orchester und Erzähler“ verwebt Melodien, Gesänge und Erlebnisse von Frauen und Männern, die Flucht er- und überlebt haben.

Ein erster Schritt zurück ins Leben

Manche waren in ihren Heimatländern als professionelle Musiker tätig, wie der syrische Sänger und Gitarrist Mazen Mohsen. Manche konnten sich künstlerisch nicht frei entfalten, wie Orainab Mashayekhi, die aus dem Iran kommt, wo Frauen nicht als Solosängerinnen auftreten dürfen. Einige sind schon länger in Deutschland, andere erst seit einigen Monaten, wie der Tänzer Samer Tamim aus Syrien, der jetzt in Marbach lebt. Er sei „innerlich tot“ gewesen, sagt er – bis er zu dem Fugato-Projekt gestoßen sei. Ein Bekannter hatte ihn zu den schon weit gediehenen Proben mitgenommen, Samer wurde spontan in die Produktion eingebaut.

Für den 30-Jährigen ist die unverhoffte Bestätigung, mit seiner Kunst in diesem Land geschätzt und eingebunden zu werden, der erste Schritt zurück ins Leben. Auch die 34-jährige Soma Azizi, Kurdin aus dem Iran, die seit vier Jahren in Deutschland lebt, war isoliert und nahe an der Depression, bis sie beim Singen im Fugato-Ensemble eine neue Kraftquelle fand.

Eine kleine Welt als Vorbild für das große Ganze

Der Name Fugato ist sinnfällig. Denn es steckt nicht nur das lateinische Wort „Fuga“ – „Flucht“ darin. In der Musiktheorie bezeichnet „Fugato“ ein Stück, in dem sich verschiedene Stimmen aufeinander beziehen und einander imitieren, ohne dabei ihre Eigenständigkeit zu verlieren. So, wie es auch die Mitglieder des Fugato-Ensembles praktizieren. „Es gibt so viele Klänge und Arten, Musik zu machen. Oft bleibt es nur ein Slogan. Aber Fugato zeigt, welchen großartigen kulturellen Schatz Migration mit sich bringt“, beschreibt der Gitarrist, Arrangeur und Komponist Alon Wallach das musikalische Zusammenwirken. Wallach kommt aus Israel, lebt seit Jahren in Stuttgart, ist auch am Stadtjubiläumsprojekt „Ludwigsburg – Lieder einer Stadt“ beteiligt. Unter seiner Leitung treffen sich die Fugato-Beteiligten seit Beginn des Jahres regelmäßig in der Ludwigsburger Friedenskirche.

Begegnungen mit Modellcharakter

Christen, Muslime, Juden und Atheisten singen dort gemeinsam traditionelle Musik aus ihren Herkunftsländern und erarbeiten neue Texte und Lieder. „Dabei sind musikalische und menschliche Begegnungen entstanden, die Modellcharakter haben für die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen können“, sagt Wallach. „Jeder muss seine Kultur zeigen, aber auch offen für andere sein. Das brauchen wir nicht nur in der Musik.“ Auch die Iranerin Orainab Mashayekhi – sie hat einen Master in Philosophie und arbeitet derzeit an ihrer Promotion – schätzt Fugato: „Es ist eine Welt, in der wir offen und tolerant miteinander singen und umgehen. Eine kleine Welt, die als Vorbild für unsere Gesellschaft dienen kann“.

Universelle Anliegen, in Musik verpackt

Die titelgebende Parabel von den verbotenen Tönen stammt aus der Feder von Bernhard König . „Konzipiert ist sie als ortsunabhängige Rahmenkomposition“, erzählt der Komponist und Konzertpädagoge aus Nordrhein-Westfalen. „Sie ist so angelegt, dass die jeweiligen Mitwirkenden ihre eigenen Lieder, Texte und Zeitzeugenberichte einfügen können.“ Sprecher erzählen in zehn Miniaturen die Handlung, das Orchester begleitet sie. Dazwischen bettet Alon Wallachs Fugato-Ensemble seine Parts ein.

In Reutlingen und Esslingen eroberten Flüchtlinge, die dort leben, und die Württembergische Philharmonie mit dem Konzept 2017 bereits die Herzen der Zuhörer. Auch die Ludwigsburger Neuproduktion hat das Zeug dazu – transportiert sie doch in emotionaler musikalischer Sprache universelle Anliegen wie den Wunsch nach Frieden, Liebe und Zugehörigkeit. „Es ist so, als würde Musik über Religionen und Kulturen erhaben sein und einen Ort schaffen, wo man sich ohne Vorbehalte treffen kann“, beschreibt es Gerald Birkenstock. Der ehrenamtliche Flüchtlingshelfer begleitet die Produktion und geht den Musikern bei der Organisation zur Hand.

Shagol Momeni hat mittlerweile wieder eine Rubab. Er spielt am Mittwoch mit. Wenn seine Finger geschmeidig über den Bund aus Maulbeerholz gleiten, huscht ein Strahlen über sein ansonsten ernstes Gesicht. Was ihm die Zukunft bringt, weiß er nicht. Seine kleine Tochter fragt manchmal, ob sie irgendwann wieder in ein Boot steigen müssen. „Aber hier habe ich Freunde gefunden“, sagt er. „Hier ist alles gut.“

Musik für das Miteinander

Das Konzert
„Fugato: Verbotene Töne – Zehn Fabeln und ein Requiem für Orchester und Erzähler“ beginnt am Mittwoch, 28. November, um 20 Uhr im Forum am Schlosspark. Karten gibt es zu Preisen zwischen sieben und 19 Euro.

Der Klang
Fugato ist eine Kooperation der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und des Vereins Trimum, einem interreligiösen und interdisziplinären Gemeinschaftsprojekt, bei dem jüdische, christliche und muslimische Musiker, Theologen und Kantoren, Wissenschaftler und Komponisten Konzepte und Veranstaltungsformate für ein friedliches, konstruktives Miteinander der Religionen entwickeln. Das Zustandekommen des Konzert im Forum ermöglichen zudem die Friedenskirche Ludwigsburg und der Fachbereich Bürgerschaftliches Engagement der Stadt Ludwigsburg.