Der Messerangriff eines 15-jährigen Afghanen gegen einen 16-jährigen Ukrainer in einer Wohngruppe der Paulinenpflege in Winnenden hat zum Glück keine bleibenden körperlichen Schäden verursacht. Folgen hat er für die Beteiligten dennoch.

Rems-Murr: Chris Lederer (cl)

Alles nur wegen eines Paars Boxhandschuhe. Weil diese angeblich nicht ordentlich aufgeräumt waren, sind zwei Jugendliche kürzlich in einer Wohngruppe der Paulinenpflege in Winnenden in einen handfesten Streit geraten. Erst fielen böse Worte, dann setzte es einen Faustschlag, und als die Lage durch einen Betreuer eigentlich beruhigt schien, holte der Getroffene ein Messer aus der Küche und stach es seinem Kontrahenten in den Rücken. Der anwesende Mitarbeiter ging sofort dazwischen, trennte die beiden, schloss sich und den Verletzten in der Küche ein und rief dann den Notarzt und die Polizei. Der Täter wurde von einem weiteren Betreuer in Schach gehalten.

 

Der Angriff verlief verhältnismäßig glimpflich: „Der Junge aus der Ukraine hat das Krankenhaus inzwischen wieder verlassen, es bestand zum Glück keine Lebensgefahr“, sagt Heiner Breuninger, Geschäftsführer im Jugendhilfeverbund der Paulinenpflege. Der Angreifer bedauere sein Verhalten und habe dem Verletzten einen Brief geschrieben, in welchem er um Entschuldigung bittet. Der Afghane wurde zwischenzeitlich in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert. In ihre Wohngruppe werden beide nicht mehr zurückkehren. Für sie wurden alternative Unterbringungsmöglichkeiten gesucht. „Der Angriff war die absolute Ausnahme, so einen schweren Fall gab es bei uns noch nie.“

Aktuell verfügt die Paulinenpflege in der Jugendhilfe über ein Dutzend Wohngruppen, die über den Rems-Murr-Kreis verteilt und auf unterschiedliche Personen- und Bedarfsgruppen ausgerichtet sind. Das Aufnahmealter reicht von sechs bis 18 Jahren. „Es handelt sich um Jugendliche, die wir vom Kreisjugendamt zugewiesen bekommen, deren Kindeswohl gefährdet ist und die deshalb nicht mehr zu Hause versorgt werden können“, sagt Heiner Breuninger. „Sie werden aus den Familien genommen und können bei Bedarf an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr betreut werden.“ Die Jugendlichen, die in diesen Wohngruppen leben, können aus verschiedenen Gründen Unterstützung benötigen: familiäre Probleme, soziale Schwierigkeiten, Fluchthintergrund, Verhaltensprobleme oder emotionale Herausforderungen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Enge Zusammenarbeit mit den Behörden

Die Arbeit erfordert ein Team von Fachleuten, das eng mit den Jugendlichen zusammenarbeitet, um deren Bedürfnisse zu erfüllen sowie ihre Entwicklung und Selbstständigkeit zu fördern. Dazu gehören in der Regel Sozialpädagogen, Erzieher, Psychologen und andere Fachkräfte. Einer von ihnen ist Georgios Tsatlakoglou. Ziel sei es, für die Jugendlichen ein sicheres und stabiles Umfeld zu schaffen, in dem sie sich wohlfühlen und sich gut entwickeln können, erklärt der Sozialpädagoge. Es werden individuelle Betreuungspläne für die Jugendlichen entwickelt, die auf deren spezifische Bedürfnisse und Ziele abgestimmt seien. „Jeder Jugendliche bringt sein eigenes Päckchen mit“, sagt Tsatlakoglou. Was drinsteckt, das versuche man im Vorgespräch mit dem Jugendamt, beziehungsweise in Einzelgesprächen mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen herauszufinden. Aufgabe der Einrichtung sei es, den Kindern und Jugendlichen bei der Bewältigung von Problemen und Herausforderungen zu helfen, wie etwa bei Konflikten, der Förderung sozialer Fähigkeiten oder der Verbesserung des Selbstbewusstseins.

Auch gebe es individuelle Sonderbetreuungsformen wie etwa pädagogisches Boxtraining, tiergestützte Pädagogik, Kunsttherapie und erlebnispädagogische Angebote. Unterstützt werden die Jugendlichen bei der Integration in die Gemeinschaft und bei der Entwicklung von Lebenskompetenzen, wie zum Beispiel der Jobsuche, der Schulausbildung oder dabei, später finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. „Wichtig ist uns auch die Zusammenarbeit mit den Familien der Jugendlichen, mit den Kolleginnen des Jugendamtes und anderen Fachleuten, um die bestmögliche Unterstützung zu gewährleisten“, erklärt Heiner Breuninger.

Mit jedem Neuzugang entstehen neue Dynamiken

Das Zusammenleben in den Gruppen könne man sich wie in einer Jugendgemeinschaft vorstellen, sagt Tsatlakoglou. „Wir achten darauf, dass die Jugendlichen zusammenkommen und auch untereinander in Kontakt treten, es gibt gemeinsame Abendessen und Gruppenabende.“ Es gebe aber auch Konstellationen, da müsse man die Einzelperson mehr im Blick haben. „Wir schauen vor der Aufnahme, ob der Jugendliche in die Gruppenkonstellation passt“, sagt der Sozialpädagoge. „Wenn ein Jugendlicher neu hinzukommt, entstehen neue Dynamiken.“ Auch die Nationalitäten würden, wenn möglich, bei der Zusammenstellung der Gruppen mitberücksichtigt. Beispielsweise sei es förderlich, wenn eine weitere Person die gleiche Sprache spreche. Auch die soziale Kompetenz der Gruppe spiele eine wichtige Rolle, etwa wenn ein Neuankömmling ein höheres Aggressionspotenzial mitbringe.

Mehr als hundert stationäre Plätze für Kinder und Jugendliche

Neben den Wohngruppen für die Jugendlichen und einer Gruppe ausschließlich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMA) gibt es im Jugendhilfeverbund zwei Gruppen für Kinder von sechs bis elf Jahren und zwei für Kinder und Jugendliche mit psychischer Behinderung. Darüber hinaus besteht eine Mutter-Kind-Gruppe sowie eine für Autisten. Eine besondere Form der Betreuung stellt die Inobhutnahme und Kurzzeitunterbringung dar, etwa wenn das leibliche Wohl eines Kindes in Gefahr sei, erklärt Breuninger. Dort könnten bis zu acht Jugendliche aufgenommen werden. Die Gruppen seien in der Regel „bunt gemischt“, erklärt der Geschäftsführer. „Das Jugendamt fragt bei uns an, und wir schauen, in welche Gruppe das Kind passt und wo wir einen Platz freihaben“, erklärt Breuninger. „Beispielsweise kann es vorkommen, dass die Polizei am späten Abend einen Jugendlichen aus einer Familie holen muss und diesen dann quasi unangekündigt zu uns bringt.“ Die Betreuung in der Inobhutnahme sei nur für einen kurzen Zeitraum vorgesehen, um zu klären, wie es mit den Betroffenen weitergeht und um neue Perspektiven zu entwickeln.

Fachpersonal wird immer gesucht

In der Regel werde in den Wohngruppen im Doppeldienst gearbeitet, sodass mindestens zwei Betreuer da sind, sagt Georgios Tsatlakoglou. Oft würden die Fachkräfte durch Auszubildende oder Praktikanten unterstützt. Gruppen mit speziellem Profil hätten einen höheren Betreuungsschlüssel. Breuninger: „Es herrscht kein Personalnotstand, und wir können die Anforderungen, die an uns gestellt werden, erfüllen, aber wir sind immer auf der Suche nach Erziehern und Sozialpädagogen.“ 100 Vollzeitkräfte arbeiteten im stationären Bereich, also in den Wohngruppen. „Weitere 300 Mitarbeitende sind darüber hinaus in den ambulanten Settings im Einsatz“, sagt Breuninger. Wenn Not am Mann herrscht, könne entsprechend ausgeholfen werden.

Was die Zahl der Betreuungsplätze in Wohngruppen angeht, gebe es mehr Anfragen als Unterbringungsmöglichkeiten, sagt Breuninger: „Seit anderthalb Jahren haben wir meist nur ein oder zwei freie Plätze für Notfälle, weil die Anforderungen und Bedarfe so in die Höhe geschnellt sind.“