Die Freude über die Festnahme des Paris-Attentäters Salah Abdeslam war von kurzer Dauer. Nach den Anschlägen von Brüssel hagelt es Kritik, dass es der Polizei nicht gelingt, die Terrorzellen früher zu entdecken und auszuheben.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - François Hollande sollte recht behalten. Der französische Präsident wurde nicht müde, seine Landsleute zu warnen. Die Bedrohung durch den Terror sei noch nie so groß gewesen, wiederholte er auch nach der Festnahme von Salah Abdeslam. Der 26-Jährige war in den vergangenen Monaten zum Gesicht der Attentäter geworden. Seit den Anschlägen vom 13. November, bei denen in Paris 130 Menschen von drei Killerkommandos ermordet wurden, war die Fahndung vor allem auf ihn gerichtet. Mit seiner Festnahme vor wenigen Tagen in Brüssel schien der einzige Überlebende einer beispiellosen Terrorserie in den Händen der Sicherheitskräfte.

 

Die anderen bisher bekannten Beteiligten der Anschläge sind tot. In Abdeslam sahen die französischen Behörden das noch fehlende Glied in der Terrorkette. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Fahnder. Doch die Brüssler Attentate am Flughafen und im Europaviertel, zu denen sich der sogenannte Islamische Staat bekennt, zeigen die Verletzlichkeit Europas.

Ein weitverzweigtes Netzwerk radikaler Islamisten herrscht in Brüssel

Unklar ist, welche Rolle Abdeslam gespielt hat und ob er weitere Attentate geplant hat. Der belgische Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw reagierte auf entsprechende Fragen ausweichend. Der Chefermittler sagte lediglich, bei Terrorermittlungen gehe es darum zu handeln, bevor etwas passiere. Er sprach von einem „Puzzle“, dessen Teile erst noch zusammengelegt werden müssten. Alle hofften allerdings, dass ihnen ein entscheidender Schlag gegen den islamistischen Terrorismus gelungen sei, der seit den Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ Europa in Atem hält.

Nach den Anschlägen im November 2015 in Paris rückte die islamistische Szene in Brüssel verstärkt ins Visier der Sicherheitsdienste. Die Ermittlungen zu den Attentaten brachten ein weit verzweigtes Netzwerk radikaler Islamisten in der belgischen Hauptstadt zu Tage. Gleich mehrere der Attentäter stammten aus dem Brüsseler Brennpunktviertel Molenbeek, wo am Freitag auch der flüchtige Mittäter Salah Abdeslam gefasst wurde. Neben ihm und seinem Bruder Brahim, der sich am Abend des 13. November in einer Bar in die Luft sprengte, kam auch der Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud aus Molenbeek. Abaaoud wurde am 18. November im Pariser Vorort Saint Denis von der Polizei getötet. Salah Abdeslam kehrte jedoch in der Nacht der Anschläge nach Brüssel zurück, tauchte dort unter. Plötzlich erinnerte man sich auch daran, dass bereits im Mai 2014 in der Hauptstadt Belgiens bei einem Attentat im Jüdischen Museum vier Menschen getötet worden waren. Als Haupttäter auf die jüdische Gemeinschaft galt damals der Franzose Mehdi Nemmouche, der zuvor in Syrien als Angehöriger der Terrormiliz Islamischer Staat Gefangene gefoltert haben soll. Die Sicherheitskräfte hätten gewarnt sein müssen.

Abdeslam wuchs mitten in Europa auf

Aus diesem Grund mussten sich die Fahnder immer wieder schwere Kritik an ihrer Arbeit gefallen lassen – so auch nach den aktuellen Anschlägen in Brüssel. Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) wirft den Behörden etwa vor, dass der Salafismus im Brüsseler Stadtteil Molenbeek seit vielen Jahren gewachsen sei „und man hätte möglicherweise eher eingreifen müssen“, sagte der Minister am Dienstag in Düsseldorf. Jäger zeigte sich erschrocken darüber, dass eine mutmaßliche Terrorzelle in Belgien über Jahre unentdeckt bleiben konnte. „Es geht nicht um einzelne, sich selbst organisierende Täter, sondern es wurde strukturiert und abgesprochen vorgegangen. Das setzt Zellenbildung voraus“, sagte er. „Es ist leichter, solche Zellen zu entdecken, als radikalisierte Einzeltäter. Und das ist das Erschreckende: dass eine solche Zelle dort nicht entdeckt werden konnte.“

Die Anschläge in Brüssel und der offenbar damit zusammenhängende Fall Abdeslam zeigen die Wehrlosigkeit unserer Gesellschaft. Der 26-Jährige war kein Zuwanderer und kein Flüchtling. Der Mann wuchs mitten in Europa auf, in einem Staat, der wie viele andere seine sozialen Brennpunkte nicht unter Kontrolle hat. Er brauchte keine Tricks, um den Fahndern zu entkommen. Er nutzte schlicht die Lücken der europäischen Sicherheitsarchitektur. Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek ist keine Terroristenhochburg. Dazu wurde er gemacht, weil kommunale Strukturen versagt haben. Und weil am Ende Meldevorschriften nicht durchgesetzt wurden, die anderswo auch in Brüssel selbstverständlich sind. Nur so konnte er offensichtlich 126 Tage lang mitten in einer Stadt wohnen, in der gleichzeitig mehr als 100 Wohnungen durchsucht und immer wieder weitere potenzielle Täter festgenommen wurden. Die Anschläge in Brüssel zeigen, dass mit der Festnahme Abdeslams der Kampf gegen den Terrorismus in Belgien noch lange nicht gewonnen ist.