Haiti leidet mehr denn je. Eine Fahrt durchs Erdbebenland mit dem langjährigen Helfer Kurt Habermeier aus Heilbronn.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Port-au-Prince - Wie immer am Abend ist die Sonne plötzlich verschwunden, nur die Hitze geht nicht fort. Unter der Verandabrüstung des Hotels Oloffson liegt der Swimmingpool, in den Graham Greene kunstvoll die Leiche eines Selbstmörders platzierte, sinnvollerweise direkt unter das Einlaufrohr, so dass sich mit einem Dreh am Wasserhahn alles Blut beseitigen ließ. Der pittoreske, weiß getünchte Kasten aus der Kolonialzeit ist eine charmante Kulisse in Greenes Roman "Die Stunde der Komödianten", heute lassen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Journalisten und Geschäftemacher aus aller Welt die Atmosphäre auf sich wirken.

 

Man sitzt auf einem Stuhl der Veranda und gibt im Stillen Greene recht, der über das Hotel einst schrieb: "Man erwartete, dass eine Hexe oder ein irrsinniger Butler einem die Tür auftat, hinter sich einen Vampir, der vom Lüster herabhing."

Habermeier ist abgestoßen von Port-au-Prince

Zu so was passt ein Glas vom angeblich besten Rumpunsch der Karibik, der hinter der hölzernen Bar gemixt wird, an der schon Marlon Brando und Jackie Kennedy saßen. In großen geriffelten Wassergläsern wird der orangefarbene Drink serviert, in den haitianischer Rum, Maraschino, Orangensaft, Zitronensaft und Rohrzucker gehören. Kurt Habermeier trinkt lieber Bier. Was machen wir hier, fragt sein Gesicht.

Auch für den Pool und das Romanblut hat er weder Auge noch Ohr. Der 64-Jährige hat zu viel echtes Blut gesehen, seit er Ende der 90er Jahre als Entwicklungshelfer des katholischen deutschen Hilfswerks Misereor nach Haiti kam. Der gebürtige Heilbronner ist abgestoßen von Port-au-Prince. "Aber ich kann es nicht meiden", sagt er. Scharf brennt der erste Schluck Punsch, der durch einen Strohhalm gesogen wird, im Rachen. Einige der ausschließlich weißhäutigen Gäste auf der Veranda lachen laut. Unten, in der geharkten Auffahrt, stehen ihre riesigen klimatisierten Geländewagen.

Bäume werden zu Holzkohle

Ab und zu muss Kurt Habermeier in seine ungeliebte Hauptstadtbasis fahren, er kommt dann aus einer bewaldeten Region in Meeresnähe, weit weg von Ruß und Müll, Straßen und Häusern, die eines der schlimmsten Erdbeben der Menschheitsgeschichte zerriss. "Ich liebe das Land draußen", bekennt er. Im zerklüfteten Hinterland der Küstenstadt Les Cayes im Südwesten bringt er Kleinbauern bei, dass Landwirtschaft besser und ertragreicher funktioniert, wenn Felder nicht einfach frei geholzt und später der Auswaschung durch den Regen preisgegeben werden.

Zur Zeit des Christopher Columbus war Haiti zu 90 Prozent bewaldet, heute sind es noch drei Prozent der Landesfläche. Das haben nicht allein die 800.000 Kleinbauern getan. Die meisten Bäume werden zu Holzkohle gemacht, dem wichtigsten Brennstoff des rapide wachsenden Zehnmillionenvolks. Schon während der Diktatur des haitianischen Präsidenten FranÛois Duvalier, genannt Papa Doc, der 1958 einen Putschversuch überlebte, wurden Zehntausende Hektar Wald in Grenznähe zur Dominikanischen Republik abgeholzt, um regimefeindlichen "Kommunisten" vermeintliche Verstecke zu rauben.

Wassermangel trotz tropischer Witterung

Eine Schwester des Diktators betrieb daneben einen schwunghaften Tropenholzhandel mit Frankreich. Heute dehnen sich auf Haiti Wüsten- und Steppenlandschaften aus, in vielen Landesteilen herrscht trotz der regenreichen tropischen Witterung Trinkwassermangel.

In den Bergen bei Les Cayes knallt der Bauer Antoniel Duval die Spitzhacke in den Boden, er zieht mit befreundeten Landwirten bei 35 Grad Mittagshitze Furchen für Elefantengras, das die sieben Ziegen im Pferch ernähren wird. Der Schweiß läuft dem 61-Jährigen unter der Hutkrempe hervor. Ein Stück tiefer werden Süßkartoffeln angepflanzt für die 15 Familienmitglieder Duvals. Sie leben - Alte, Kinder und Enkel - in einer schiefen Lehmhütte mit zwei Zimmern, vor deren Durchlässen Tücher hängen. Unter der Decke baumelt eine nackte Glühlampe, die von einem Draht gespeist wird, der von irgendwo im Tal kommt.

Fragen des Lebens

Von Kurt Habermeier und dessen Projektgruppe hat der Bauer Duval gelernt, so zu wirtschaften, dass Bäume nachwachsen, die Böden das Wasser speichern können und die Ziegen nicht mehr die Triebe wegfressen. "Waldgärten" nennt Misereor solche Formen optimierter Landnutzung, doch das ist nur ein Synonym für sogenannte Agroforstsysteme, wie sie seit Jahrzehnten in Hungerländern auf der ganzen Welt angelegt werden. Der Weltbürger Habermeier war lange in Brasilien, bevor er nach Haiti kam. Seit dem vergangenen Jahr profitieren er und fünf Agrartechniker von einer 300.000-Euro-Spende, die Mitarbeiter des Friedrichshafener Autozulieferers ZF nach dem großen Erdbeben gesammelt haben. Kaum etwas auf Haiti funktioniert ohne die Kirchen und deren Spendenetats.

Von Heilbronn war Kurt Habermeier nach Heidelberg zum Studieren gegangen, wurde dort Teil der studentischen Protestbewegung. Nicht lange, dann führte Habermeiers Weg an afrikanische Universitäten, auf den Kontinent seiner Sehnsüchte und Hoffnungen, ins Entkommen aus der Kleinbürgerlichkeit. Die Anhäufung von Geld interessierte den fertigen Afrikanistiker nie. Fragen des Überlebens umso mehr.

Mädchen prostituieren sich

Leicht lässt sich erraten, was die haitianischen Bauernkinder denken, wenn sie ihre Eltern schuften sehen, die Väter auf den Feldern, die Mütter auf den lokalen Märkten, zu denen sie, meist über viele Kilometer, Bananen, Kartoffeln oder Maniok schleppen. Die Jugend flieht das Land und den traditionell schäbigen Ruf des "Paysan", des Menschen ohne Bildung und Talent, der gezwungen ist, den Boden zu bearbeiten. Kurt Habermeier arbeitet dagegen an und sagt überall: "Auf dem Land habt ihr es besser als in der Stadt." Aber Bauer Duval bekommt von den Heranwachsenden etwas anderes zu hören: "Sie glauben, die Stadt ist das Paradies, und das hier ist die Hölle."

Wenn die Hölle ein Ort unablässiger Qual ist, dann ist Port-au-Prince die Stadt, die diesem Ort am nächsten kommt. Mehr als drei Millionen Menschen versuchen jeden Tag, zwischen Erdbebenruinen zu überleben. Die Jungen vom Land flüchten sich, nach einer Phase der Ernüchterung, häufig in eine der bewaffneten Gangs, die von den Slums aus operieren, Mädchen prostituieren sich, nicht selten für 50 haitianische Gourdes. Das sind 20 Cent.

Argentinische UN-Soldaten spielen Billard

Wer daran noch nicht kaputtgegangen ist, schafft es vielleicht ins Straßenkinderprojekt Lakay, einer Einrichtung des Salesianerordens. Etwa 700 Kinder und Jugendliche kommen täglich dorthin, um zu duschen, zu essen oder zu schlafen. Die Einrichtungsleitung schätzt, dass 5000 Kinder allein oder in Gruppen durch die Straßen von Port-au-Prince irren. Das Geld des offenen Hauses reicht, um jährlich wenigstens 30 Kindern eine Ausbildung zur Friseurin oder Kosmetikerin, zum Schreiner oder Elektriker zu geben. Schon vor dem Erdbeben waren mehr als die Hälfte der Haitianer Analphabeten. Die Zerstörung vieler Schulen hat die Bildungsmisere verschärft.

Wer das täglich mit ansieht, wird leicht gläubig, zynisch oder stumpfsinnig. Im weitgehend unzerstörten hoch gelegenen Stadtteil Pétionville patroullieren abends die Blauhelmsoldaten, wer zu Fuß unterwegs ist und es an den Hundemeuten vorbei schafft, die bei Dunkelheit ihre Reviere abriegeln, landet in Bars mit fantasielosen Namen wie VIP Club. Argentinische UN-Soldaten spielen Billard, zwei Tanzpaare wiegen sich im Takt der Salsamusik, das Ganze bewacht ein Uniformierter am Eingang mit einem Maschinengewehr auf den Knien.

Weisheit und Demut

Ein Bier kostet einen US-Dollar, das schreckt Einheimische ab. Manchmal wird ein Lied von "Sweet Micky" gespielt, das ist der Künstlername des früheren Musikers und seit Mai amtierenden Staatspräsidenten Michel Martelly. Dann lächeln die Kellnerinnen versonnen in den leeren Raum.

Der stille Kurt Habermeier redet nicht darüber, wie er das alles aushält. Vielleicht glaubt er an Veränderungen im Nanobereich, die sich über Jahrzehnte potenzieren und dann, plötzlich, ein ganzes Land heilen können. So wie ein Körper eine Grippe bekämpft, und eines Morgens ist die Kraft wieder da. Vielleicht ist er auch über die Jahrzehnte seiner Entwicklungsarbeit zu einer Weisheit und Demut gelangt, die sich in Mittelwesteuropa nicht erwerben lässt und Durchreisenden also unvorstellbar bleibt.

Kein Psychologe kümmert sich um Traumata

Vielleicht hat der Mann mit seinen 64Jahren auch etwas von der unfassbaren Leidensfähigkeit angenommen, die mehr denn je ein Teil des haitianischen Lebens ist. Enfrasa heißt eines von Dutzenden Flüchtlingszeltlagern in der Hauptstadt. Es ist nach einem früheren Sportverein benannt. Die alte, rostige Zuschauertribüne wirft zur Dämmerungszeit ein Schattengitter auf 700 Zelte, in einem lebt nun bald im dritten Jahr die 35-jährige Esther Compas mit ihrer kleinen Tochter. Als das Erdbeben losbrach, wurden Mutter und Kind unter den Trümmern ihres Mietshauses verschüttet.

Zwei Tage lag Esther Compas unverletzt, doch gefangen unter den Trümmern, ihr dreimonatiges Baby auf dem Bauch. Kein Psychologe kümmert sich um die Traumata, von denen die Flüchtlinge nachts gequält werden. "Gott gibt mir die Kraft weiterzumachen", sagt Esther Compas. Das Lager wird nicht kleiner. Inzwischen leben unter den Zeltplanen auch Haitianer, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können.

Der Rumpunsch ist leer. An einem Tisch im Oloffson treffen fünf junge Amerikanerinnen ein, sie geben sich dramatische Küsschen und zeigen, was sie an Schmuck von zu Hause mitgebracht haben. "Wir gehen", weist Kurt Habermeier an. Er hängt die obligate Jutetasche mit den aufgedruckten Orangen über die Schulter, die seine Aktentasche ist. Dann eilt er die Treppen hinunter, noch mal am Swimmingpool vorbei, ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen.