Es kann nur einen geben: Sebastian Vettel oder Lewis Hamilton. Dachten alle vor Saisonstart. Beim Auftakt der Formel 1 aber meldet sich Valtteri Bottas eindrucksvoll zu Wort. Hat der Finne sich in seinem dritten Jahr bei Mercedes und seiner Demütigung 2018 jetzt freigeschwommen?

Melbourne - Was sieht Valtteri Bottas in jenem langen Moment, in dem er auf dem Siegerpodium schon die Magnumflasche Champagner an die Lippen gesetzt hat, aber die Augen zusammenkneift, so als wolle er sich versichern, dass das gerade alles kein Traum war. Läuft da der Film von den 58 Runden nochmal ab, von denen er gesagt hat, dass es die bisher besten seines Lebens waren? Oder der von jenen 476 Tagen, in denen er sieglos war und mutlos schien? Oder den noch längeren Streifen von jenem finnischen Jungen, der sich nicht wie die anderen in den Rallyewagen träumte, sondern in ein Formel-1-Auto? Vermutlich ist es ein Zusammenschnitt, fast forward, und als endlich der Schampus fließt, ist da nur noch das breiteste Lächeln von Melbourne bis nach Nastola, Südfinnland. Die Formel 1 hat ihren ersten Sieger und ihre erste große Überraschung. Titelverteidiger Lewis Hamilton hat jedenfalls einen neuen Gegner, den er fürchten muss, den härtesten, den man sich vorstellen kann – seinen Teamkollegen im Silberpfeil. Fürs Erste ist der Champion eingenordet, und Bottas WM-Tabellenführer.

 

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Siege im Albert Park, so wenig aussagekräftig sie fürs Gesamtbild auch manchmal sein mögen, wie es die deklassierte Scuderia von Sebastian Vettel glauben mag, können Ungeahntes freisetzen – gerade bei Mercedes-Fahrern. 1997 hat Mika Häkkinen die Rennwelt mit dem ersten Sieg in Silber auf den Kopf gestellt, danach zweimal den Titel geholt. 2016 hatte Nico Rosberg zum Auftakt den übermächtigen Hamilton bezwungen, am Ende des Jahres war er Weltmeister. Das mentale Super Plus, das im 29 Jahre alten Bottas hochoktanig brodelt, kommt aber nicht aus dem Bundesstaat Victoria, sondern aus Lappland. Ein Sieger, der aus der arktischen Kälte kommt. Zweimal war er diesen Winter da oben, beim Langlaufen, beim Hundeschlittenrennen, mit dem Snowmobil. Am Ende ist er eine Schneerallye mitgefahren, die erste seines Lebens, und hat gleich eine Etappe gewonnen. Irgendwann in den kurzen Tagen oder langen Nächten hat er diesen Blick bekommen, den neuen. Auf sich, auf die Formel 1, aufs Leben. Das macht den braven Chauffeur zum eiskalten Favoritenkiller.

Die Demütigung von Sotschi

Frische Luft, sagt Bottas, und Ruhe, mehr habe er nicht gebraucht. Das stimmt so nicht ganz. Mit seinem Trainer Antti Virula hat er mehr Zeit verbracht als mit seiner Gattin Emilia, die als Olympiaschwimmerin lange die prominentere des Sportlerpaares war. Sisu, diese für Nicht-Finnen unerklärliche Gelassenheit, hat ihn das letzte Horror-Jahr überleben lassen, in dem er nur WM-Fünfter wurde. Und die größtmögliche Demütigung, als er in Sotschi auf Geheiß der Mercedes-Strategen dem WM-Kandidaten Hamilton den Sieg überlassen musste. Dieser Funkspruch von Vordenker Vowles („Valtteri, this is James...“) hatte sich eingebrannt. Auch bei den Fans, die den ohnehin verzweifelten Piloten zusätzlich in den sogenannten sozialen Medien traktierten: „Bist Du sicher, dass Dein Hund nicht auch James heißt?“ Mercedes bat die Internet-Trolle offiziell, das doch bitte zu lassen. An diese Kritiker richtete sich das „F... you“, dass Bottas nach der Zieldurchfahrt am Sonntag ins Helmmikrofon brüllte.

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Damit hat in Melbourne nicht nur ein neues Kapitel angefangen, vor allem ist ein altes abgeschlossen. Einer seiner privaten Sponsoren hat ihm den perfekten Slogan „Behalte Deine innere Coolness“ auf den Leib geschneidert, ein anderer setzte ihn in einen Simulator für Hafenkräne. Das wirkte sehr hölzern, und hat nur den Spitznamen „Robottas“ unterstrichen. Mercedes-Teamchef Toto Wolff, der Bottas früher gemanaged und zu Williams geholt hatte, kennt einen ganz anderen Menschen als den, den alle nur als Beifahrer gesehen haben: „Vielleicht musste er die Williams-Jahre und die Schock-Beförderung zu Mercedes erst einmal verdauen. Er ist in Melbourne gefahren wie früher in den Nachwuchsformeln, als er der Maßstab war und alle anderen vernichtet hat.“

Der Druck auf Bottas ist groß

Der Druck auf Bottas ist groß, und als jetzt das momentan arbeitslose Supertalent Esteban Ocon als Reservefahrer neben Toto Wolff in der Mercedes-Box auftauchte, wusste der Stammfahrer, was für ihn 2019 auf dem Spiel steht. „Das zeigt mal wieder, wie viel in der Formel 1 im Kopf entschieden wird“, lobt Personalchef Wolff, „und welches Potenzial in Valtteri schlummert.“ Ein Comeback, dass die alte Regel außer Kraft gesetzt hat, nach der nette Jungs einfach nicht gewinnen können.

Im Cockpit hat er ohnehin noch nie so hölzern gewirkt wie bei öffentlichen Auftritten. Da ist es sogar ein Vorteil, wenn kein Pathos mitfährt, wie bei seinem ersten vierten Grand-Prix-Sieg im 119. Rennen. Blitzstarts, das sind seine Spezialität. Damit wären wir wieder am Polarkreis angekommen: „Ich brauche einfach manchmal Einsamkeit um mich herum.“ Hat er gehabt, mit seinen 20 Sekunden Vorsprung auf den Nächstbesten. Ein Mann mit einer Mission: seine Seele zurückerobern.

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