Deutschland wird regiert – auch wenn’s nach der Wahl bei der Bildung einer neuen Koalition Hunde und Katzen regnet. Dafür hat das Grundgesetz Vorsorge getroffen. Aber noch nie hat ein Bundespräsident bei der Regierungsbildung eine Rolle gespielt, wie sie jetzt auf Frank-Walter Steinmeier zukommt.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Eine Entscheidung war für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Tag danach schnell getroffen. Kurz vor Mitternacht hatten die Liberalen die Jamaika-Sondierungen platzen lassen, und morgens gegen acht Uhr teilte sein Amt mit, dass die eigentlich für diesen Montag geplante Reise nicht stattfindet. Nordrhein-Westfalen muss noch länger auf den Antrittsbesuch des Staatsoberhaupts warten, denn der Bundespräsident ist in Berlin unabkömmlich. Die Kanzlerin Angela Merkel hat in der Nacht zuvor angekündigt, dass sie ihn am Montag über die geplatzte Regierungsbildung informieren wird.

 

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Das ist der Moment, an dem klar wird, dass Bundespräsident Steinmeier nun ziemlich zügig verfassungsrechtliches Neuland betreten muss. Die Bundesrepublik ist 68 Jahre alt geworden, bis die Vorkehrungen, die die Verfassungsväter 1949 im Grundgesetz für schwierige Regierungsbildungen getroffen haben, zum ersten Mal einem Belastungstest unterzogen werden. An Steinmeier – dem Mann, der der christdemokratischen Kanzlerin Angela Merkel in ihren zwölf Regierungsjahren gleich zweimal als Außenminister gedient hat – ist es nun, zu entscheiden, ob es in Deutschland zu einer Minderheitsregierung oder zu Neuwahlen kommen wird. So viel Einfluss auf die praktische Politik und soviel Macht hatte keiner seiner Vorgänger vor ihm.

Steinmeiers Appell an die Verantwortung war vergeblich

Gewünscht hat Steinmeier, dessen SPD-Mitgliedschaft seit seinem Wechsel ins höchste Staatsamt ruht, sich diese Situation nicht. Noch am Wochenende hat der Bundespräsident in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ die Unterhändler gemahnt, ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden. Dass es zu Koalitionsverhandlungen gehört, die Preise zu treiben, wie das Klappern zum Handwerk, hat Steinmeier dabei eingeräumt. „Aber natürlich erwarte ich, dass sich alle Seiten ihrer Verantwortung bewusst sind“, mahnte er in dem Gespräch. „Und mit dieser Verantwortung umzugehen heißt auch, den Auftrag nicht an die Wähler zurückzugeben.“ Schon das ist eine deutliche Mahnung, aber Steinmeier wird noch deutlicher. „Der Bundespräsident kann keiner der neu gewählten Parteien im Bundestag konkrete Vorgaben machen“, setzt er hinzu. „Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass die verhandelnden Parteien ernsthaft das Risiko von Neuwahlen heraufbeschwören wollen“. Jetzt sieht es so aus, als habe das Staatsoberhaupt sich geirrt – zusammen mit der übergroßen Mehrzahl der politischen Akteure in Berlin und der Mehrheit der Hauptstadtpresse: Der Druck der politischen Verhältnisse war nicht stark genug, die Jamaikaner zusammenzubringen.

Das Grundgesetz sorgt für demokratische Ausnahmefälle vor

Vorgezogene Neuwahlen und Minderheitsregierungen sind mit gutem Grund nicht der Normal-, sondern der Ausnahmefall in der Demokratie. Deshalb hat das Grundgesetz auch hohe Hürden aufgebaut, den einen oder anderen Weg zu beschreiten. Tatsächlich hat es – anders als in vielen anderen europäischen Ländern – eine Minderheitsregierung in der Bundesrepublik noch nie gegeben, und vorgezogene Neuwahlen gab es in 68 Jahren nur drei Mal: 1972 unter dem damaligen Kanzler Willi Brandt (SPD), 1983 unter Helmut Kohl (CDU) und 2005 unter Gerhard Schröder (SPD). Alle drei stellten im Bundestag die Vertrauensfrage, in der Absicht, sie zu verlieren und so den Weg für einen früheren Urnengang herbeizuführen. Das hatten die Autoren des Grundgesetzes zwar so nicht vorgesehen, aber das Bundesverfassungsgericht hat dies im Nachlauf als verfassungsgemäß eingestuft. Dieser Weg ist Angela Merkel allerdings verschlossen, weil sie nur noch geschäftsführend im Amt ist. Einer der wenigen Unterschiede zwischen einer amtierenden und einer geschäftsführenden Bundesregierung ist, dass ein geschäftsführender Kanzler nicht die Möglichkeit hat, eine Vertrauensfrage zu stellen.

Diese Lage gab es in der Bundesrepublik noch nie

Das bringt sowohl die geschäftsführende Bundesregierung als auch das Staatsoberhaupt in eine bisher nie dagewesene Lage. Denn Neuwahlen sind nach Artikel 63 des Grundgesetzes möglich, wenn die Wahl eines Kanzlers, den der Bundespräsident vorschlägt, dreimal gescheitert ist. Erreicht ein Wahlvorschlag im dritten Wahlgang die einfache Mehrheit – was bei Merkel als Vertreterin der stärksten Fraktion im Bundestag denkbar, aber nicht sicher ist – müsste das Staatsoberhaupt binnen sieben Tagen entscheiden, ob er die Gewählte auch ohne Koalitionsmehrheit zur Kanzlerin ernennt und damit faktisch eine Minderheitsregierung ins Amt bringt. Eine andere Alternative wäre, dass der Bundespräsident auf weitere Verhandlungen dringt und die SPD auffordert, doch noch einmal die Möglichkeiten einer großen Koalition zu prüfen.

Wie Frank-Walter Steinmeier sich entscheidet, wird in der Hauptstadt mit Spannung erwartet. Um die Mittagszeit treffen er und Merkel sich. Wenig später will der Präsident sich im Schloss Bellevue erklären.