Die einen wollen weg, die anderen bewachen ängstlich ihr Haus: Unser Korrespondent Willi Germund berichtet aus der vom Taifun Haiyan verwüsteten Stadt Tacloban.

Taclaban - Ellen Gos dreijähriger Enkel weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Ängstlich klammert er sich an die Schulter seiner Großmutter inmitten des Menschengewühls vor der Pforte des Hafens von Tacloban. Beruhigend wiegt sie den Kleinen und wacht mit einem Auge über ein halbes Dutzend Reisetaschen auf der nassen Straße. Ihre 19-jährige Enkelin drückt sich schüchtern an den Rücken der Großmutter. „Wir wollen auf das Schiff der Marine, das uns nach Cebu bringt“, sagt Ellen Go. „Wir warten. Die müssen aber erst mit dem Entladen fertig werden.“ 3000 Menschen finden auf dem riesig anmutenden Landungsboot Platz, wenn es keine Fracht transportiert. Dennoch werden kaum alle, die am Hafen warten, mitkommen. „Alle wollen weg“, sagt Ellen Go.

 

Fast eine Woche ist es her, seit der Supertaifun Haiyan mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 300 Kilometern pro Stunde in Tacloban und Umgebung auf die Küste der Philippinen traf. Doch für die Überlebenden der Naturkatastrophe ist kein Ende ihrer Not zu erkennen. „Bei uns in Palo ist alles kaputt“, sagt die Angestellte in der Stadtverwaltung des Ortes. „Niemand weiß, wie lange es dauert, bis wir dort wieder leben können.“ Selbst die Holzbänke der hübschen, rot-weiß gestrichenen katholischen Kirche in dem Ort 13 Kilometer vor Tacloban verkommen in den schweren Regengüssen, die das Katastrophengebiet täglich überziehen. Das Dach wurde weggefegt. Der Dachstuhl zerbrach im Sturm und stürzte herunter. Nur die Hauptstraße nach Ormoc auf der anderen Seite der Küste wurde notdürftig von Trümmern geräumt. In den Seitenstraßen können sich nur Fußgänger einen Weg zwischen umgestürzten Strommasten, Autos und verbogenen Wellblechen bahnen.

Bloß weg aus der zerstörten Stadt

Ellen Gos Familie hat die Katastrophe unbeschadet überstanden. Aber die Großmutter will ihr einen Alltag ohne Wasser, ohne Medizin und vor allem mit knapper werdenden Lebensmitteln ersparen. „Wir gehen zu Verwandten in Cebu“, erzählt die 53-Jährige. Bis dahin braucht sie Geduld, Mut und auch Ellenbogen, um sich mit Kindern und Gepäck durch den Andrang zum Hafeneingang zu kämpfen.

Die Armee versucht unterdessen, Plünderungen zu verhindern. Oberstleutnant Leo Madronal, der Sprecher der Streitkräfte in Tacloban, sagt selbstbewusst, man habe das Problem weitgehend im Griff. „Nur nachts gibt es vereinzelte Probleme.“ Dann fahren vier Panzer durch die Dunkelheit. 3000 Soldaten sind mittlerweile im Einsatz. Doch viele Bewohner der Stadt wissen nicht einmal, dass von acht Uhr abends bis fünf Uhr morgens eine Ausgangssperre gilt. Denn mangels Strom gibt es weder Rundfunk noch Fernsehen, von Zeitungen zu schweigen. Stattdessen hat die Armee ein Stück Wellblech mitten auf die Hauptstraße gestellt, auf dem mit kaum zu entziffernder Schrift die Zeiten der Ausgangssperre aufgepinselt wurden.

Der Hafeneingang liegt mitten im alten Zentrum von Tacloban. Der Sturm und die Wellen, die einen Teil der Stadt überschwemmt haben, haben hier kaum Schaden hinterlassen. Aber die Fassaden fast aller Geschäfte sind aufgebrochen – Spuren der Verwüstung durch Verzweifelte und Hungernde, die in den Tagen nach der Katastrophe nach Essbarem suchten.

In Tacloban gibt es keine Stadtverwaltung mehr

Jetzt ist das Zentrum weitgehend verlassen da. Schmutziges Papier weht durch die Geisterstraßen. Ein paar Jugendliche lungern herum. Aber in einer Seitengasse mit einfachen zweistöckigen Häusern haben sich der Joel Gorre and sein Nachbar David Arcena mit ein paar Freunden unter einem grünen Zeltdach eingerichtet. „Wir passen auf unsere Häuser auf“, sagt Gorre, der bis zum Taifun bei der Stadtverwaltung von Tacloban beschäftigt war. Arcena betrieb vor dem Taifun einen Krämerladen, in dem es von Konservendosen bis Zigaretten alles gab. Jetzt sind die Regale leer. „Ich habe meine Waren unter den Nachbarn verteilt“, sagt Arcena. „Die brauchen die. Und ich wollte auch vermeiden, dass Diebe sich die Sachen holen.“ Gorre fühlt sich trotz des Ausnahmezustands nicht bemüßigt, bei der Arbeit zu erscheinen. „Es gibt keine Stadtverwaltung mehr“, sagt er, „und ich will mein Haus nicht alleine lassen“. Wie Gorre und Arcena hat jeder Überlebende in Tacloban seine eigene Geschichte von den gut fünf Stunden zu erzählen, in denen Haiyan mit unvorstellbarer Wucht über den Küstenort herfiel und Wasser in die letzte Häuserecke drückte. Pater Edwin Bacalpos hat seine Erlöserkirche als Notunterschlupf für die Bewohner zur Verfügung gestellt, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite in der Nähe des Meers gelebt haben. Nur 300 suchten Zuflucht. Die Philippinen haben Erfahrung mit Taifunen. Die meisten Bewohner der Katastrophenregion waren auf den Sturm vorbereitet. Doch mit so starken Wellen hat niemand gerechnet. Die Behörden hatten deshalb ausgerechnet Gebäude als staatliche Evakuierungszentren eingerichtet, die entlang der Küste gebaut worden waren. So gehört auch ein Teil der 250 000 Philippinos zu den Toten, die hier Schutz gesucht hatten.

Die Kirche wird zum Evakuierungszentrum

Der Pater klagt über die gleichen Probleme, die nahezu überall in Tacloban zu hören sind. „In einigen Vierteln ist Nahrung verteilt worden, bei uns nicht“, sagt Joel Gorre, der Mann, der sein Haus bewacht. Die Regierung erklärt, dass ihre Nothilfelager nach einem Erdbeben in Bohol und nach Zusammenstößen mit islamischen Kämpfern in der Stadt Zamboanga bei der Ankunft des Taifuns bereits leer waren.

Pater Edwin versucht zu helfen. Er hat ein Leintuch am Kirchenzaun aufgehängt. „Wir sind ein Evakuierungszentrum“, steht dort, „wir brauchen Hilfe.“ Doch statt Säcken voller Nahrung liegen bisher nur Leichensäcke mit Toten vor dem Tuch. Soldaten haben sie hier versammelt.

Der ungewöhnliche Notruf findet bei den Behörden wenig Widerhall. Dabei hätten sie allen Grund, schnell auf die vielen Appelle um Unterstützung zu reagieren. In der Provinz Leyte ist wie in der ebenfalls schwer beschädigten Nachbarregion Samur die kommunistische Guerillabewegung New People’s Army aktiv. Sie könnte von der großen Enttäuschung der Bevölkerung über die nur langsam anrollende Hilfe profitieren und populärer werden.

Pater Edwin muss Alternativen zur staatlichen Hilfe suchen. „Ich habe schon drei Mal eine Liste bei der Regierung abgegeben. Geschehen ist nichts“, sagt er. Dabei hausen inzwischen mehr 1500 Frauen, Männer und Kinder in der leicht beschädigten Kirche. Der Priester hat kaum Hoffnung, dass sie bis Ende November wieder ausziehen. Denn viele seiner Gäste besitzen gerade noch die Kleider, die sie am Leib tragen. Ihre Häuser sind zerstört, Geld für den Wiederaufbau gibt es noch lange nicht.

Die Leichen werden bestattet – ohne Namen, ohne Würde

So haben sich viele in der Erlöserkirche dauerhaft eingerichtet. Die Zwischenräume der Bänke wurden zu kleinen Wohnzimmern ohne Wände umfunktioniert. In einer Ecke kläfft ein Hund. An einer Seitentür läuft eine Frau mit ihrem Säugling ins Freie, dem der Durchfall durch die Windeln quillt. Im Kirchhof liegt ein angebundenes Schwein im Schatten. Ein paar Frauen unterhalten sich am Holzfeuer.

Am Haupteingang der Kirche ruft der 45-jährige Biofel Llamado nach seiner Ehefrau Maria Fe. Leichenblass schleppt sie sich ins Gotteshaus. Maria Fe trauert. Zehn Verwandte sind bei dem Taifun ums Leben gekommen. Ihre 15-jährige Tochter ertrank in einem Zimmer, während sie schreiend vor Angst am Dachbalken hing. Auch von ihrer 16-jährigen Tochter fehlt jede Spur. „Eine Freundin behauptet, sie verletzt und unter Schock auf der Straße gesehen zu haben“, erzählt die Mutter apathisch. Sie habe sich geschworen, Tacloban solange nach ihrer Tochter abzusuchen, bis sie das Mädchen findet.

Oberstleutnant Leo Madronal sagt, die Bergung der Leichen habe Priorität. „Wir versuchen nicht, die Toten zu identifizieren. Sie werden alle in einem Massengrab auf dem öffentlichen Friedhof beerdigt.“ Sollten Soldaten Maria Fes Tochter tot unter den Trümmern an der Küste entdecken, hat die Familie kaum eine Chance, das Mädchen in Würde zu beerdigen.