Oppositionspolitikern drohen wegen Kritik an Erdogan lange Haftstrafen. Weil Herausforderer Kemal Kilicdaroglu nicht im neuen Parlament sitzt, verliert er die strafrechtliche Immunität.

Nach dem neuen Wahlsieg des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan müssen sich Bürgerrechtler und Oppositionspolitiker auf eine härtere Gangart einstellen. Gegen den Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu ermittelt die Justiz. Sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe könnte auf die Tagesordnung kommen. Ein prominenter Oppositionspolitiker kündigt bereits seinen Rückzug an. Der Oppositionskandidat Kilicdaroglu hat nicht nur die Stichwahl gegen Erdogan verloren. Nach seiner Niederlage wird der 74-Jährige wohl auch das Amt des Vorsitzenden der Traditionspartei CHP abgeben müssen. Schlimmer noch: Weil Kilicdaroglu nicht im neuen Parlament sitzt, verliert er jetzt auch die strafrechtliche Immunität. Er könnte schon bald vor Gericht gestellt werden.

 

Oppositionelle Köpfe rollen

Oppositionelle Köpfe rollen

Gegen Kilicdaroglu sind rund 40 Strafverfahren anhängig, 16 davon wegen angeblicher Beleidigung und Verleumdung des Präsidenten Erdogan. Daneben wird dem früheren Oppositionsführer unter anderem Beeinflussung der Justiz, Beleidigung öffentlicher Amtsträger und Strafvereitelung vorgeworfen. Unter dem Strich könnten sich die Anklagen zu einer langen Haftstrafe addieren. Als möglicher Nachfolger Kilicdaroglus an der Spitze der CHP gilt der populäre Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Aber auch er ist mit einem Strafverfahren konfrontiert. Weil er die Mitglieder des Obersten Wahlrats als „Dummköpfe“ bezeichnete, verurteilte ein Gericht Imamoglu zu zwei Jahren, sieben Monaten und 15 Tagen Gefängnis sowie zu einem politischen Berufsverbot. Imamoglu legte gegen das Urteil Berufung ein. Wird es in der zweiten Instanz jedoch bestätigt, wäre er politisch kaltgestellt.

Eine schlechte Nachricht war Erdogans Wiederwahl auch für den Bürgerrechtler und Mäzen Osman Kavala sowie für Selahattin Demirtas, den früheren Co-Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP – zwei von Tausenden politischen Gefangenen in der Türkei. Kavala wurde 2017 festgenommen und im April 2022 wegen versuchten Umsturzes zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der Begnadigung verurteilt. Demirtas sitzt seit 2016 in Untersuchungshaft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Freilassung von Kavala und Demirtas angeordnet, aber die Türkei ignoriert die Urteile. Deswegen läuft im Europarat ein Vertragsverletzungsverfahren, das zum Ausschluss der Türkei führen könnte.

Wiedereinführung der Todesstrafe?

Wiedereinführung der Todesstrafe?

Am Mittwoch gab Demirtas über Twitter aus seiner Zelle bekannt, dass er sich aus der Politik zurückzieht. Er kritisierte den „unorganisierten“ Wahlkampf der HDP. Bei der Parlamentswahl musste die Partei Verluste hinnehmen. In seinem Tweet entschuldigte sich Demirtas bei den Wählern. Es tue ihm leid, „dass wir nicht in der Lage waren, unserem Volk eine würdige Politik anzubieten“. Erdogan gilt als treibende Kraft hinter den Inhaftierungen von Kavala und Demirtas. Noch am Wahlabend rief er seinen Anhängern zu, solange er Präsident sei, werde Demirtas nie freikommen. Die Menge stimmte daraufhin Sprechchöre an: „Hängt ihn auf, hängt ihn auf!“

Die Türkei hatte 2004 die Todesstrafe abgeschafft. Damit öffnete sich die Tür zu Beitrittsverhandlungen mit der EU. Nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 brachte Erdogan aber immer wieder eine Wiedereinführung zur Sprache. „Wir können das Thema (Todesstrafe) nicht länger aufschieben“, sagte er 2016. Wenige Monate später bezeichnete er die Wiedereinführung als „berechtigte Forderung“. Erdogan damals: „Was der Westen dazu sagt, interessiert mich nicht.“ Das neue Parlament könnte eine entsprechende Verfassungsänderung mit Dreifünftelmehrheit beschließen. Dass sie zustande kommt, gilt nach dem Rechtsruck bei den jüngsten Wahlen als sicher. Die Verfassungsänderung müsste noch in einer Volksabstimmung gebilligt werden. An einer Mehrheit besteht auch hier wenig Zweifel.