Tagelang hatte das Kirchenmassaker Charleston in tiefste Trauer gestürzt. Doch beim farbenfrohen, feierlichen Gottesdienst für den getöteten Pfarrer Pinckney gibt US-Präsident Obama neue Hoffnung. Er hält die vielleicht bewegendste Rede seiner Amtszeit.

Charleston - Gegen Ende seiner Rede stimmt Barack Obama „Amazing Grace“ an, das Volkslied über die „erstaunliche Gnade“ Gottes in schweren Zeiten, das schon den Sklaven in den USA Kraft und Hoffnung gab. Erst zögerlich, dann begleitet von Tausenden Stimmen in der Halle in Charleston singt der erste schwarze US-Präsident die Zeilen, die übersetzt so lauten: „Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich.“

 
 

“May God continue to shed His grace on the United States of America." —President Obama after singing "Amazing Grace" to end his eulogy honoring Reverend Clementa Pinckney in Charleston, South Carolina: http://go.wh.gov/FUHq3R

Posted by The White House on Freitag, 26. Juni 2015

Es ist gut eine Woche nach dem Massaker an neun Afroamerikanern in einer Kirche der Höhepunkt seiner Traueransprache, die mehr wie eine Predigt wirkt. Wie ein Pastor, der sein Land wachrütteln will, zählt er die Lehren der grausamen Bluttat auf, die nun gezogen werden müssen. Dabei beruft sich „Reverend Obama“ immer wieder auf Gott. „Er hat uns erlaubt zu sehen, wo wir blind waren“, ruft er unter dem Jubel der Gemeinde. Zwischendurch wischt er sich eine Träne aus den Augen.

Und dann zählt er auf, was sein Land nach seiner Meinung noch immer nicht richtig sieht. „Zu lange sind wir blind gewesen gegenüber dem einzigartigen Chaos, das Waffengewalt dieser Nation zufügt“, ruft er. „Zu lang waren wir blind gegenüber dem Schmerz, den die Konföderierten-Flagge in zu vielen unserer Bürger auslöste“, meint er wegen der Kontroverse um das Symbol für die Sklaverei-Verteidiger in den Südstaaten. „Zu lang waren wir blind gegenüber der Art, wie vergangene Ungerechtigkeiten die Gegenwart weiterhin prägen“, sagt er über die anhaltende Diskriminierung von Bürgern schwarzer Hautfarbe.

Die Trauernden wollen dem Bösen die Kontrolle nicht überlassen

Viele, die seit Jahren über Obama berichten, sprechen von einer seiner besten Reden – über die Lage der Nation, die noch lange nachwirken wird. Doch Obama weiß selbst, dass er einen schnellen Wandel der Gesellschaft nicht diktieren kann. „Niemand sollte einen Wandel der Rassenverhältnisse über Nacht erwarten“, sagte er.

Gekommen ist er für die Trauerfeier für den ermordeten Pfarrer Clementa Pinckney, der unter den neun Toten war. Der 21-jährige Dylann Roof hatte am 17. Juni bei einer Bibelstunde um sich geschossen.

Obama entzieht dem Täter geschickt die Bühne. Dieser sei mit seinem Vorhaben gescheitert, das Land zu spalten. „Der von Hass geblendete, mutmaßliche Mörder konnte die Gnade nicht sehen, die Pfarrer Pinckney und diesen Bibelkreis umgab“, erklärte der Präsident. Roof habe nicht damit gerechnet, dass die Hinterbliebenen der Opfer mit Vergebung reagieren und dass die USA die Bluttat als Anstoß zur Selbstprüfung nutzen würden.

Überhaupt zeigen die Trauernden, dass sie dem Bösen nicht die Kontrolle über ihr Leben geben wollen. Sie singen und lachen, sie klatschen im Takt zu Gospel-Liedern und tanzen. Die Andacht für Pinckney in der 5100 Sitze fassenden Sportarena bezeichnen sie als „Fest anlässlich seiner Heimkehr“. Auf einem großen Schild an der Bühne steht. „Falsche Kirche! Falsche Leute! Falscher Tag!“ Ein Bischof meint: „Jemand hätte dem jungen Mann sagen sollen, dass er an den falschen Ort gekommen ist, um einen Rassenkrieg auszulösen.“

Obama hat in seiner Amtszeit schon viele Trauerreden gehalten

Schon Stunden vor Obamas Rede haben sich Hunderte Trauernde in der Innenstadt versammelt. Die Warteschlange zur Arena zieht sich über mehrere Straßenblocks. Viele tragen schwarze Anzüge, Kostüme und feine Abendgarderobe. Die auf dem Gehweg Wartenden glichen einem „Meer der Menschlichkeit“, twittert der Abgeordnete im Landesparlament von South Carolina, Gary Clary. „So viele großartige Dinge können aus einer Tragödie entstehen“, sagt eine Afroamerikanerin in der Warteschlange.

Zur weißen Methodistenkirche, in der Roof um sich schoss, ist es nur ein kurzer Fußmarsch. Blumenkränze schmücken das neugotische Gotteshaus an diesem strahlend warmen Sommertag. Von den umliegenden Gebäuden wehen Banner, die Zuversicht geben sollen. „Lasst uns das Beispiel dafür sein, dass Liebe über das Böse siegt“, steht auf einem geschrieben, wie Fotos von Reportern zeigen.

Mindestens 14 weitere Trauerreden hat der seit sechseinhalb Jahren amtierende Obama bereits gehalten, etwa für die Opfer des Schulmassakers in Newtown (Connecticut) mit 26 Toten, darunter 20 Kinder. Mit jedem Amoklauf, jeder Schießerei werde es schwerer für Obama, noch Optimismus zu verbreiten, schreibt die „Washington Post“. Doch diesmal ist es ihm wieder gelungen.