Manches skurril, manches von großer Innerlichkeit. Nicht nur die meisten Uraufführungen bei den Donaueschinger Musiktagen sind generell von großer Güte, vor allem sind es die Musiker, die sich zwischen den Maschinen auf den Bühnen behaupten.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Großes Orchester, eine chromatische Mundharmonika, virtuos gehandhabt von der Niederländerin Ermine Deurloo, und viele verminderte Septen: Wer würde im Schlusskonzert der Donaueschinger Musiktage in der Baar-Sporthalle beim Stück „Melancholie“ des 1972 in Jordanien geborenen deutschen Komponisten Saed Haddad nicht an Sergio Leones Film „Once upon a Time in the West“ denken; geprägt und gestaltet, nicht untermalt, von Ennio Morricones Musik, die in der Eingangssequenz unverhohlen den Avantgardisten John Cage zitiert: Über zehn Minuten Windradquietschen, Schaukelstuhlknarren, Fliegengesumm – Geräuschcollagen wie aus dem Arsenalschrank der Neuen Musik. Lange nach dem Showdown reitet Charles Bronson, aus Sweetwater davon – dabei blüht die Gegend gerade auf, geht in die Moderne. Ob Bronson zurückkommen wird? Sein letztes Wort ist „someday“, eines Tages.

 

Traurige, ja trauernde und entschieden nostalgische Züge finden sich zahlreich in Haddads Komposition, die noch einmal einen Klang wiederzubeleben scheint, den man zuletzt Ende der achtziger Jahre vom alten SDR-Orchester gehört zu haben meint, ein Hauch Restromantik und allerspätestes neunzehntes Jahrhundert, sehr merkwürdig, sehr schön konserviert: Es war einmal im Südwesten.

Baumarktware im Einsatz

Aber natürlich steckt in diesem zauderhaften Quasizauber, genauso wie in des Schweizers Jürg Frey folgender Extra-Langsamkeits- und Extrem-Pianissimostudie „Elemental Realities“ irgendwie auch Retro als Anmutung. Mag sich die Technik noch so stapeln in den Donaueschinger Hallen und Sporthallen, es gibt die Fraktion, die vorerst noch im Herzen Nein sagt dazu und zumindest weitgehend im Analogen sich wärmen mag. Die Komponisten beim instruktiven Podiumsgespräch, Gordon Kampe und Michael Pelzel, sagten nicht von ungefähr, sie schrieben am liebsten für den „großen Apparat“. Das alles aufgeben: someday, vielleicht! Und bis dahin?

Fast im Archaischen landete in diesen Zusammenhängen die Wiener Komponistin Eva Reiter, unter deren Regie (verlängerter Dirigentenarm: Tito Ceccherini) das SWR-Symphonieorchester beiseitelegte, was sonst zentral ist für den Einzelnen – das jeweilige Instrument. Geblasen und sirrend-flirrend in der Luft bewegt wurden stattdessen: PVC-Rohre, bearbeitete Baumarktware. Man kann das so und so hören (und sehen).

Eine starke Währung

Fürs klassische Orchester ist im zwanzigsten Jahrhundert, von ein bisschen Schlagwerk abgesehen, kein Instrument mehr erfunden worden. Ausdruckserweiterung jenseits elektronischer Ergänzung muss mithin kein Schaden sein. Andererseits brach Reiter die Magie des Augenblicks, indem sie das Stück dann doch noch vergleichsweise konventionell rückverband: Bass- und Paetzold-Flöten, sehr gute Perkussion und der Deutsche Kammerchor erreichten das Gegenteil des Intendierten. Sie nivellierten die neue Hörerfahrung. Zugegeben aber auch: Das Gestern ist in der Musik immer eine starke Währung. Man denke nur an: „Yesterday“.

Wie man dieses Gestern mit dem Heute exemplarisch verbindet, hatte während der von Björn Gottstein diesmal eher apolitisch zusammengefügten Musiktage der 43-jährige Däne Simon Steen-Andersen im bereits in der Samstagsberichterstattung erwähnten Eröffnungskonzert gezeigt: Seine SDR/SWF-Archivschnipseltüftelei „Trio“ bewies in der Interaktion mit SWR-Chor, Orchester und Big Band ein immenses Faible für den Tusch in C-Dur wie auch Nähe zum dadaistischen und zum Comicwitz.

Komisch und erhellend

Andersens Musik erwies sich buchstäblich als „gut geschnitten“; er weiß, wie man Effekt macht, ohne effekthascherisch zu wirken. So wurde ein Zeitalter, 1950 ff., besichtigt, das hinsichtlich der Dirigenten noch hauptsächlich aus seltsamen „Heiligen“ bestand, die zur Kunst beten ließen, besonders griesgrämig und streng im Duktus, wenn sie Deutsche waren. Das war nicht nur nostalgisch, sondern komisch und erhellend unterhaltend, zumal als die These erhärtet wurde, dass Musik, richtig verstanden, das Primat eines Genres oder einer Spielart nicht kennen sollte.

Ganz nebenbei rehabilitierte Andersen, der den Orchesterpreis bekam, die Bedeutung des Jazz, nicht zuletzt für die Musiktage in Donaueschingen. Dass er sich, wie in diesem Jahr bei der Now Jazz Session, hinter viel Mystik und gesampeltem Gedonner (Rdeca Raketa) und einem kaum Freiraum für Mitspieler lassenden Stück „Open Form for Society“ (Christian Lillinger) förmlich verschanzte, war insofern minimal bedauerlich.

Laufen lassen

Generell haben die Musiker, in den Spezialensembles Intercontemporain, Resonanz und Klangforum Wien, ein Qualitätsniveau erreicht, das Exaktheit und Empathie als Regel versteht. Dazu kommt Ausdauer, die Komponisten manchmal zu regelrechten Marathonstrecken verführt: Alberto Posadas, der für „Poetica del espacio“ den ganzen Raum der Donauhalle A, heute Mozartsaal, bespielte, ließ es buchstäblich laufen – qua Dynamik und Motion lud er die Klänge auf; nimmermüde war ihm der Dirigent Sylvain Cambreling auf der Spur. Erlebniswanderung als Tour de Force – ein Männerstück, sehr selbstbewusst bis hin zur Kraftmeierei.

Umgekehrt das Verfahren von Mark Andre in „rwh 1“, der erneut das Verschwinden des Klangs im Klang thematisierte: Jesu Auferstehung, das „Noli me tangere“ aus dem Johannes-Evangelium. In seiner sehr eigenen Rückwärtsgewandtheit schafft Andre etwas, das nicht viele können: Er gründet, in meisterlicher Zusammenarbeit mit dem SWR-Experimentalstudio, seinen persönlichen Klangraum. Sehr fragil freilich.

Orchester der Zukunft

Rustikaler dagegen: „Remember me“ von Gordon Kampe, der in seiner Zeit als Organist im Ruhrgebiet viele O-Töne gesammelt hat. Was die Gemeinde so drauf hatte: von „Die Blümelein, sie schlafen . . .“ bis „O Sole mio“. Retroverknüpfungen auch hier. Wo das Orchester der Zukunft hinwill und was es spielt, wenn es nicht schon wieder die Vierte von Brahms spielen will, darauf freilich können auch die Musiktage in Donaueschingen, die nicht zuletzt eine Messe und ein Branchentreff sind, keine definitive Antwort geben.

Die Mensch-Maschine-Problematik allerdings scheint gesetzt. Spielerisch überzeugend und wohltuend unaggressiv wird sie in Szene gesetzt, als der britische Pianist Joseph Houston Stücke spielt, die ein Computer ausgesucht hat, zwei Männer, eine Frau. Alle verfremden den Klang des Flügels, allesamt beherrschen sie ihr Handwerk. Der wirkliche Handwerksmeister allerdings ist der junge Joseph Houston, der die vertrackten Piecen aus dem Ärmel schüttelt, als sei die Avantgarde auch schon wieder überholt. Yesterday? Someday? Es war ein sehr gutes Jahr.