Günter Grass ist tot. Er war nicht der über allem schwebende Erklärer der Geschichte, sondern von ihr so bedrängt, verführt und versehrt wie seine Figuren, schreibt Stefan Kister in seinem Nachruf.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Lübeck/Stuttgart - Mit dem Tod von Günter Grass geht mehr als nur ein Leben zu Ende. Dieser Tod beschließt eine Epoche. Er zieht die Summe aus einem Werk und Wirken, das in eben dieser charakteristischen Zweiheit das Erscheinungsbild einer auf den Trümmern des Krieges errichteten Nachkriegswelt geprägt hat.

 

Wie viele unter den Wenigen, denen es vergönnt oder beschieden war, mit ihrem Namen eine Zeit zu signieren, musste Grass erdulden, als Mensch und Monument zugleich eine Doppelexistenz zu führen. Und in der Fallhöhe vom einen zum anderen sammelte sich jener Vorrat an Hohn, Spott und Empörung, der in den letzten Jahren über jede seiner Lebensäußerungen niedergehen konnte. Dies umso mehr, als sich Grass selbst nicht mit der Rolle als Pfeife rauchender elder statesman der literarischen Republik begnügen wollte, sondern um das, was zu sagen war – oder auch nicht –, den priesterlichen Dampf eines poetisches Orakels zu verbreiten liebte.

Der „Alte“, wie er sich durchaus kokett zu nennen pflegte, verstand sich bis zuletzt darauf, zu Recht erregte Debatten anzufachen, wenn er in versifizierter Form vor einem atomaren Angriff Israels auf das iranische Volk warnte oder Europas Schande im Umgang mit Griechenlands Schulden in humanistisch holperndem Metrum anprangerte. Aber das sind „Eintagsfliegen“, so der Titel des letzten Gedichtbands, in dem sich neben jenen grobkörnig-anstößigen Zeilen auch feinere, an seine Kritiker gerichtete finden: „Habt Geduld,/ ein Weilchen nur bleibe ich noch, / sichre Euch Lohn und wohltemperierte Stuben“, schreibt er „An die Gemeinde meiner Feinde“, und schließt mit den Versen: „Ach, wie flüssig es Euch / und schlau von der Hand geht; / mir jedoch stockt schon wieder die Tinte.“

Geschichte bleibt ein verstopftes Klo

Dass diese Weile nun verstrichen ist, die Tinte endgültig versiegt, lässt auch die Kritiker stocken. Der Tod beendet das publizistische Katz-und-Maus-Spiel, auf das sich dieser Autor selbst so gut verstanden hat. Alles begann 1927 in kleinbürgerlicher Enge in Danzig, später, 1955, mit dem dritten Preis bei einem Lyrikwettbewerb des SWR in Stuttgart.

Doch man kann dieses Leben auch als Heroengeschichte erzählen. Dieser urwüchsige Mensch mit dem Sattelrobbenbart, von dem Marcel Reich-Ranicki anfangs warnte, er sei kein deutscher Schriftsteller, sondern ein bulgarischer Agent, räumt in dem wüsten Chaos auf, das der Krieg äußerlich wie innerlich hinterlassen hatte. Wie der antike Heros Herkules durch seine Taten die Ungeheuer der Vorzeit besiegt hat, um Kultur und Zivilisation den Weg zu ebnen, so wütete dieser barocke Kraftkerl durch den geschichtsvergessenen Augiasstall, in dem die Adenauer Ära den braunen Unrat von tausend Jahren eilig entsorgt hatte. Geschichte, das blieb für Grass, wie es noch in seiner in seiner Novelle „Im Krebsgang“ aus dem Jahr 2002 heißt, ein verstopftes Klo: „Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch.“

Das erste Meisterwerk: „Die Blechtrommel“

Das Ergebnis eines ersten Reinigungsgangs ist die „Danziger Trilogie“, deren Eröffnungsbuch „Die Blechtrommel“ Deutschland 1959 – vier Jahre nach dem Tod Thomas Manns, drei nach dem Brechts – literarisch in den Kreis jener kulturellen Kräfte zurückführt, aus dem es sich zuvor herauskatapultiert hatte. Das „Klassenziel der Weltliteratur“, wie es Hans Magnus Enzensberger ausdrückte, war damit erreicht.

Grass‘ Größe ruht in Umkehrung des geläufigen Bildes auf den Schulter des Zwerges Oskar Matzerath, der aus Widerwillen gegen das Treiben der Welt das Wachsen einstellt und aus dieser Froschperspektive verfolgt, wie die kleinen Leute zum Faschismus kamen. Noch vierzig Jahre später gilt die Verleihung des Nobelpreises an Grass vor allem dem Autor dieses Jahrhundertromans. „Der Spatenstich des Günter Grass gräbt tiefer als der der meisten“, heißt es in der Begründung der Jury, er habe das Verleugnete und Vergessene wieder heraufbeschworen.

So salbungsvoll klingt die Kanonisierung der Literaturgeschichte – und so der Weg dahin: „Blasphemisch“, „pornografisch“, „jugendgefährdend“ lauteten die Vorwürfe, mit denen der Bremer Senat die Verleihung des Buchpreises der Stadt an Grass verweigerte, trotz Intervention Ingeborg Bachmanns und Paul Celans.

Was Reich-Ranicki schrieb

In einer „Auf gut Glück getrommelt“ überschriebenen Rezension begründete Marcel Reich-Ranicki mit der Feststellung, dem Autor werde seine stilistische Begabung zum Verhängnis, beider lebenslange Hassliebe. Doch die vitale Drastik, in der sich Grass‘ Begabung austobt, hat die Zeit besser überlebt als das bleiche Fehlurteil seiner Kritiker. Dem Leser jedenfalls raubt das deftige Gericht dieses Romans immer noch den Atem, in dem die kleinbürgerliche Herkunftswelt des elterlichen Kolonialwarengeschäfts im Danziger Vorort Langfuhr ebenso brodelt wie deren kaschubische Vorgeschichte, Triebhaftigkeiten aller Art, Nazigift und -galle.

Salman Rushdie, Nadine Gordimer, John Irving bekehrten sich zu Grass – der Ruf der Blechtrommel drang weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Und er übertönte zum Leidwesen des Autors den Rang der folgenden Werke: den der meisterhaft gebauten Novelle „Katz und Maus“, die wegen einer darin geschilderten Onanierolympiade in den Fokus der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften geriet; oder den des Romans „Hundejahre“, für den Grass abermals in die Geschichtskloake des deutschen Kleinbürgertums hinabsteigt, und mit dem die Danziger Trilogie schließt.

Grass, der politische Autor

„Er hat die Bundesrepublik ziviler, freier, demokratischer gemacht, kurz: bewohnbar.“ Mit diesen Worten würdigte der Verleger Klaus Wagenbach den Freund vor knapp sieben Jahren an seinem achtzigsten Geburtstag. Dass Grass, der seine Bildhauerkarriere für die Schriftstellerei hintangesetzt hatte, an seinem Erscheinungsbild als öffentlicher Figur stets ebenso beflissen gemeißelt hat, wie an seinen Texten, mag man heute von sicherem Grund aus genervt oder belustigt quittieren. Man sollte dabei aber nicht vergessen, wie unsicher das Terrain einmal war.

Grass setzte sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein, er sympathisierte mit dem Prager Frühling, stritt gegen reaktionäre Tendenzen in der BRD und die Unterdrückung der Freiheit in der DDR; er wirbelte im Wahlkampf für Willy Brandt und die SPD, deren Mitglied er allerdings erst nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 wird und nur für gut zehn Jahre blieb, bis die Genossen auf den Kurs einer rigiden Asylpolitik einschwenken. Trotz seines Eintretens für eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn beurteilte er die deutsche Wiedervereinigung kritisch. Damit lag er wohl falsch. Doch dass das „Schnäppchen namens DDR“ nicht so leicht zu haben war, wie manche glaubten, darüber ließ sich streiten.

Einer, der polarisierte

Grass ging keinem Streit aus dem Weg. Dass sich an ihm die Geister schieden, steckte er besser weg, als wenn sie es an seinen Werken taten. Das allerdings war häufig der Fall. Die parabolische Fischsuppe des „Butt“ erschien den Kritikern wahlweise zu dünn oder zu schwer verdaulich, die Endzeitvision der „Rättin“ zu sehr von einer Mission beherrscht, als dass sich der Dichter gegen den Mahner behaupten könnte.

Dabei lohnte es sich einmal, sein Augenmerk auf die durch das Werk ziehenden Weltflüchtigen zu richten, um das Vorurteil der belletristischen Botschaftlerei zu entkräften. Der unermüdliche Wahlkämpfer bekennt in der Erzählung „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“: „Manchmal bin ich fertig allein und möchte in etwas weich warm Feuchtes kriechen, das unzureichend bezeichnet wäre, wenn ich es weiblich nennen wollte. Wie ich mich schutzsuchend erschöpfe.“

Vielleicht heißt es, diese Stelle unzureichend zu erfassen, wenn man hier einflicht, dass Grass mit drei Frauen sechs Kinder gezeugt hat. In jedem Fall gehört die schutzbedürftige Beharrlichkeit der Schnecke aber ebenso in die Privatmythologie dieses Dichters wie der Felsenwälzer Sisyphos, in dem der passionierte Camus-Leser und gelernte Steinmetz sein eigenes Treiben spiegelt. Man muss das Absurde zu dem Schulmeisterlichen hinzudenken, das Eskapistische zu der verantwortungsvollen Geistesgegenwart, wenn man nach eine Antwort auf die Frage sucht, weshalb Grass seine Zeit in der Waffen-SS erst so spät, 2006 in dem Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“, eingestanden hat. Diesmal war es der eigene Unrat, der aus dem verstopften Gedächtnissystem nach oben spritzte. Mehr als die Verblendung des Siebzehnjährigen verstörte deren langes Verschweigen.

Ein Makel blieb

Trommelte Grass nur gegen die Schuld der Anderen? Ein Makel blieb, der die selbst- und fremdbetriebene moralische Überhöhung auch wieder etwas zurechtrückte. Grass war eben nicht der über allem schwebende Erklärer der Geschichte, sondern von ihr so bedrängt, verführt und versehrt wie seine Figuren. Er war ihr Medium. Nun schweigt es. Am Montag ist Günter Grass im Alter von 87 Jahren in Lübeck gestorben.

Aber vielleicht muss man nur genau hinhören. In dem Gedicht „Wegzehrung“ wünscht sich der Autor: „Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein / und mit neuesten Zähnen./ Wenn es dann kracht,/ wie ich liege,/ kann vermutet werden:/ Er ist das,/ immer noch er.“