Die Theologin Margot Käßmann kommt zum Nachtschicht-Gottesdienst nach Stuttgart. Mit Pfarrer Ralf Vogel spricht sie über das Thema Spielräume, verletzte Spielregeln und den Heiligen Geist als Mitspieler.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Mit Pfarrer Ralf Vogel spricht Margot Käßmann über das Thema Spielräume, verletzte Spielregeln und den Heiligen Geist als Mitspieler.

 

Frau Käßmann, in der Nachtschicht geht es um das Thema Spielraum. Was assoziieren Sie damit und wo würden Sie sich mehr Spielraum wünschen?

Mir gefällt vor allem das Stichwort Raum, weil ich das Psalmwort „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“, damals, als ich Bischöfin wurde, als Leitwort genommen habe. Wenn du ein festes Standbein hast, dann kannst du mit dem anderen Fuß großen Raum erspielen. Ich wünschte mir heute mehr Spielräume für unsere Kirche: Wie kann sie sich verändern? Ich finde es wichtig, sich dahingehend gedanklich Spielräume zu erschließen.

Was sagt Ihnen das Thema Spielen?

Spielen ist ein positiver Begriff. Jesus hat gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Himmelreich nicht erlangen“. Ich finde, Erwachsene sollten sich manchmal frei machen zu spielen, weil dann die Emotionen ihren Lauf nehmen können. Gott war ja auch spielerisch, bei der Schöpfung. Manchmal, wenn ich etwas in der Natur entdecke, denke ich: Da muss der liebe Gott aber Spaß dran gehabt haben. Bei diesen bunten Herbstfarben etwa.

Im Schöpfungsauftrag gesteht Gott aber dem Menschen auch Spielraum zu: „Macht euch die Erde untertan.“ Das haben wir ziemlich falsch verstanden – und vermasselt, oder?

Ich denke, dass die Haltung gegenüber der Schöpfung und den Mitgeschöpfen oft eine der Herrschaft war. Das hat sich aber in den letzten dreißig Jahren deutlich verändert. Auch im theologischen Sinne sagen wir, da steckt dahinter, dass wir die Schöpfung bewahren sollen. Das Untertan-Machen war sicherlich in alten biblischen Zeiten durch die Widrigkeit der Natur wichtig, aber heute zählt der Bewahrungsaspekt. Wir haben Verantwortung.

Aber gerade in den letzten Jahrzehnten haben wir der Erde sehr geschadet . . .

Das ist uns doch seit langem bewusst. 1972 ist der erste Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht worden. Schon meine Generation hat vielerorts kritisch gefragt: „Muss es nicht weniger Konsum geben“ oder hat sich für „Jute statt Plastik“ eingesetzt. Aber es war nicht möglich, die Wachstumsideologie zu bremsen: Immer mehr, immer schneller, immer weiter. Stattdessen jetzt eine Ethik des Genug zu entwickeln, das ist auch eine Aufgabe von Christinnen und Christen.

Drängt die Zeit?

Ja. Aber sie drängt schon seit vierzig Jahren. Mich macht das manchmal auch ungeduldig. „ Die Zeit drängt“ hieß es schon bei der Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung in Seoul 1990. Wir müssen dringend eine Form finden, mit diesem „Fünf nach Zwölf“ so umzugehen, dass es nicht Angst macht und lähmt, sondern dass es mutige Schritte nach vorne gibt. Auch von der Politik. Ich hoffe, dass das mit der neuen Regierung bei uns der Fall sein wird.

Viele Spielregeln werden derzeit gebrochen, egal ob es um Klimaschutz oder die Menschenwürde geht. Wie schaffen wir es, zu einem Zusammenspiel zu kommen, bei dem niemand verletzt wird?

Für mich fängt das bei uns selbst an: Wie spreche ich über andere? Mich erschreckt in letzter Zeit oft die Sprache, die Verrohung, die da stattfindet. Dieses Gepöbel ohne jeden Anstand. Ich fürchte, wenn die Sprache gewalttätig wird, werden irgendwann auch die Handlungen gewalttätig. Da muss ein Stoppschild von uns allen gesetzt werden: So wird über andere Menschen nicht gesprochen!

Sind es die sozialen Medien, die das begünstigen?

Ich denke, die Anonymität in den sogenannten sozialen Medien, die oft sehr unsozial sind, verführt Menschen dazu, Dinge zu schreiben, die sie mir niemals direkt sagen würden. „Du verfickte Kirchenziege“, bekam ich etwa schon zu lesen. Ich wette, der Schreiber würde mir das nicht ins Gesicht sagen.

Wenn man den Heiligen Geist als Mitspieler versteht, dann zeigt sich etwa am Beispiel von Pfingsten, dass dieser gern dort erscheint, wo Vielfalt herrscht, etwa viele Sprachen gesprochen werden. Warum tut sich der Mensch mit der Vielfalt oft schwer?

Eigentlich dürfte das für Christen gar kein Problem sein, weil wir ja keine nationalistischen Kirchen sind. Wir sind Kinder der Familie Gottes, die in Tansania, Indonesien, Brasilien oder in Griechenland leben. Ich wünsche mir mehr Begeisterung für Vielfalt. Es wäre doch beispielsweise grottenlangweilig, wenn alle Frauen dieser Erde aussähen wie eine Barbiepuppe. Ich bin froh, dass es dicke und dünne und kleine und große und dunkelhäutige und hellhäutige Menschen gibt. Das macht die Lebendigkeit des Lebens aus.

Margot Käßmann kommt am Sonntag, 14. November, um 19 Uhr zur Spielraum-Nachtschicht im Hospitalhof, Büchsenstraße 33. Bei bwfamily.tv kann man die Nachtschicht am 5. Dezember um 17 und 19.30 Uhr ansehen. Tickets sind vom 1. November an unter www.nachtschicht-online.de zu reservieren.

Zur Person

Margot Käßmann
Geboren am 3. Juni 1958 in Marburg als Margot-Renate Schulz. Sie wuchs in Stadtallendorf auf. In Marburg erwarb sie 1977 die Hochschulreife. Von 1977 bis 1983 studierte sie Evangelische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen, der University of Edinburgh, der Georg-August-Universität Göttingen und der Philipps-Universität Marburg. Sie war unter anderem Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers (1999 bis 2010) und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (2009 bis 2010). Sie ist geschieden, hat vier Töchter und lebt mit ihrer Jugendliebe Andreas Helm zusammen.