Die Hockeyspielerin Natascha Keller ist erst die fünfte Frau, die die deutsche Flagge bei einer Eröffnungsfeier tragen wird. Allerdings wurde sie als Fahnenträgerin bestimmt und nicht, wie bei anderen Olympiakadern üblich, gewählt.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

London - Da sitzt sie und strahlt. Natascha Keller ist umringt von Fotografen, ein Blitzlichtgewitter prasselt auf sie ein, und wie sie da so auf dem Podium im dritten Stock des deutschen Hauses in London Platz genommen hat, kann man sich schwerlich einen Menschen vorstellen, der darüber glücklicher sein könnte. Die 35-Jährige wird am Freitag eine wichtige Rolle spielen. Natascha Keller wird bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne tragen. „Ich bin sprachlos, ich kann es kaum glauben“, sagt die Hockeyspielerin.

 

Neben ihr sitzt Michael Vesper. Der ist Chef de Mission der deutschen Olympiamannschaft und ist ziemlich zufrieden mit seiner Wahl – zu Recht: „Sie ist mit ihrer ganzen Art ein Vorbild, das Team wird sich gerne hinter ihr versammeln. Sie ist bescheiden, bodenständig, leistungsorientiert.“ Der Fahnenträger soll stellvertretend für die Mannschaft stehen, er soll so etwas wie das Gesicht sein und die Identität des Olympiateams repräsentieren. Sauber, erfolgreich, sympathisch. Natascha Keller verkörpert all diese Ideale.

„Das ist das i-Tüpfelchen“

Am Dienstagabend hatte die Rekordnationalspielerin vom Berliner HC nach einem Gespräch mit Vesper davon erfahren. „Das ist das i-Tüpfelchen auf meine Karriere“, sagt Keller, die in London an ihren fünften Olympischen Spielen teilnimmt und überhaupt erst die fünfte Frau ist, die die deutsche Flagge bei einer Eröffnungsfeier tragen wird. Sie ist zudem der erste Vertreter der so erfolgreichen Sparte Hockey, der diese Ehre zuteilwird.

Mit ihr wird nicht nur die persönliche Leistung der Spielerin gewürdigt, sondern auch die ihrer Familie. Eine olympische Familie. Großvater Erwin gewann bei den Spielen 1936 mit der Hockeymannschaft Gold, Vater Carsten holte 1972 in München Gold, Halbbruder Andreas 1992 in Barcelona, Bruder Florian 2008 in Peking, alle natürlich im Hockey. Sie selbst gewann 2004 Gold. Es gibt wohl keine Familie in Deutschland, die so eng mit Olympischen Spielen verbunden ist wie die Kellers. „Das ist die Krönung einer ohnehin schon extrem erfolgreichen Karriere und eine Hommage an die Keller-Familie mit ihrer einzigartigen olympischen Geschichte“, sagt der Hockeypräsident Stephan Abel.

Vor vier Jahren hat Dirk Nowitzki die deutsche Fahne getragen

Vor vier Jahren in Peking hatte Dirk Nowitzki die deutsche Fahne getragen – und just das hatte durchaus Gesprächsstoff geliefert. Nicht wegen Nowitzki als Person, der geradezu der Protyp des vorbildhaften Sportlers ist, sondern weil es ein Bruch mit einer Tradition gewesen ist. Olympische Spiele sind die Plattform der kleinen Sportarten, die Bühne für all jene, die in den vier Jahren zwischen den Spielen darunter zu leiden haben, dass die großen Sparten wie allen voran der Fußball dominieren. Der Basketballer präsentierte sich in Peking als herausragender Athlet und würdiger Fahnenträger, aber der eine oder andere war eben etwas irritiert. Mit Dirk Nowitzki entschied sich die deutsche Delegation damals für einen der größten Stars des deutschen Sports, einen Global Player, der mit der Lebenswirklichkeit der meisten deutschen Starter nicht viel zu tun hat und das Rampenlicht ganzjährig gebucht hat.

Es waren wie immer viele Namen in der Verlosung bei „Deutschland sucht den Fahnenträger“. Der Tischtennisspieler Timo Boll etwa oder die Turnerin Anna Dogonadze wurden vorgeschlagen, und vor allem Ralf Schumann: Der Sportschütze ist zum siebten Mal bei Olympischen Spielen dabei, dreimal hat er bereits Gold gewonnen. In Peking wurde er gehandelt, in London wieder – und wieder ist er es nicht geworden. „Er ist kein Verlierer“, sagt Vesper. „Es ist keine Entscheidung gegen jemanden, sondern für Natascha Keller.“

Keine Basisdemokratie

Anders als zum Beispiel in Großbritannien wird der Fahnenträger von der Delegationsleitung bestimmt, beim Gastgeber haben die Athleten gewählt. Präsidialdemokratie gegen Basisdemokratie. „Wir haben immer gute Ergebnisse damit erzielt“, sagt Vesper, das Verfahren sei mit der Athletenkommission abgestimmt. „Es ist bisher keine Änderung vorgesehen.“