Viel zu viele Kinder lernen nie richtig lesen. Ein „Nationaler Lesepakt“ will das ändern. Bietet die Corona-Pandemie dafür neue Chancen?

Berlin/Frankfurt/Mainz - Die Zahlen schrecken auf: Jeder fünfte Jugendliche kann nur einfache Sätze lesen, mehr als die Hälfte der 15-Jährigen liest nicht zum Vergnügen, ein gutes Drittel betrachtet Lesen gar als Zeitverschwendung. „Es gibt noch einiges zu tun“, gab Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) zu, als sie diese Zahlen referierte. Ein „Nationaler Lesepakt“ soll dabei helfen.

 

„Wir wissen, dass etwa ein Drittel der Familien mit kleinen Kindern nicht oder selten vorlesen“, sagt Prof. Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. „Dieser Befund ist sehr stabil seit vielen Jahren. Das wird sich auch durch Corona kaum verändern.“ Im ersten Lockdown habe es zwar Anzeichen gegeben, dass mehr Eltern ihren Kindern vorgelesen hätten - dann seien aber die meisten wieder in die alten Muster zurückgefallen.

Kreislauf von Herkunft und Zukunft durchbrechen

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Lust zu lesen während der Pandemie wächst, hält Ehmig für „nicht besonders hoch“. Diese Zeit sei emotional negativ besetzt - dabei müsse man vor allem Freude am Lesen vermitteln. Aber wie? „Wir müssen den Kreislauf aus Bildungsherkunft und Bildungszukunft durchbrechen“, sagt Ehmig. Durch die Schulschließungen sei das schwieriger geworden, weil Spracherwerb und Lesekompetenz in die Familien verlagert wurde. In den nächsten Jahren müsse man „gut hinschauen, was da passiert“.

Der „Nationale Lesepakt“ will die Aufmerksamkeit für dieses Thema erhöhen. „Ohne Lesen geht es nicht“, sagt der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, Jörg F. Maas. „Egal ob in der Schule, im Beruf oder in der Freizeit: Lesen ist die Grundlage, damit wir unseren Alltag meistern und gestalten.“ Aber mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland würden beim Lesen nicht ausreichend unterstützt. „Es ist Zeit zu handeln.“

Initiativen zur Leseförderung gibt es eigentlich genug: 150 000 „Lesepaten“ engagieren sich ehrenamtlich, am „Welttag des Buches“ bekommen Kinder Bücher geschenkt, Programme wie „Lesestart 1-2-3“ versuchen die Eltern zu erreichen, um nur drei Beispiele zu nennen. Der „Nationale Lesepakt“ fügt kein weiteres Programm dazu - die Initiatoren wollen vor allem erreichen, dass das Thema größere Aufmerksamkeit bekommt.

Exzessive Mediennutzung hat zugenommen

„Wir wollen das Streulicht zu einem Laserstrahl bündeln“, formuliert Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. 150 Partner haben sich bereits angeschlossen - von Verlagen und Bildungsträgern über Banken und Gewerkschaften, Parteien und Kirchen - „ein Querschnitt durch die Gesellschaft, der zeigt, wie relevant das Thema ist“, sagt Maas.

Eine Befragung des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest nach dem ersten Lockdown hatte ergeben, dass Jugendliche mehr Zeit als vorher mit Videos, Musik hören, Streaming-Diensten und Fernsehen verbrachten. Nur 20 Prozent gaben an, täglich zu lesen. 44 Prozent lasen mehr, 35 Prozent weniger als vor Corona, 21 Prozent lasen gar nicht.

Der Trend scheint sich fortzusetzen: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung berichtet, dass exzessive Mediennutzung bei jungen Leuten während Corona zugenommen hat. 12- bis 17-Jährige nutzen durchschnittlich 22,8 Stunden pro Woche und 18- bis 25-Jährige 23,6 Stunden pro Woche Computerspiele und Internet.

Dass digitale Medien an der Leseunlust schuld sind, glaubt Leseforscherin Ehmig nicht. Computerspiele, Filme, Videos und soziale Medien würden zwar stärker genutzt, Bücher aber nicht verdrängen. „Digitale Medien gehen nicht zu Lasten des Lesens. Im digitalen Raum gibt es zahlreiche Leseanlässe, die es zu nutzen gilt.“