Eine neue Hochrechnung geht von 15 Millionen toten Vögeln pro Jahr im Südwesten aus. Das Wirtschaftsministerium sieht keine Notwendigkeit, die Landesbauordnung zu ändern.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die neuen Zahlen sind so hoch, dass man zunächst versucht ist, sie als unglaubwürdig abzutun: Rund 110 Millionen Vögel kollidieren in Deutschland jährlich mit Fensterscheiben, sagt Gerhard Bronner, der Vorsitzende des Landesnaturschutzverbandes – fast alle Tiere würden dabei sterben, entweder sofort oder aufgrund von Knochenbrüchen und Gehirnerschütterung kurz darauf. In diesen Zahlen seien zudem nur Zusammenstöße an Gebäuden berücksichtigt – auch Bushaltestellen oder Lärmschutzwände würden aber häufig zu Todesfallen. „Glasscheiben sind eines der größten Vogelschutzprobleme, die wir haben“, betonte vor Kurzem auch Judith Förster, die beim BUND darum kämpft, dieses Thema stärker in die Öffentlichkeit zu tragen.

 

Für Vögel stellen Scheiben eine dreifache Gefahr dar. Oft spiegelt das Glas – die Vögel erkennen darauf einen Baum oder eine Wiese und steuern darauf zu. Manches Glas ist auch transparent – doch wenn dahinter durch ein zweites Fenster Natur aufscheint, sehen die Vögel das Hindernis nicht. Fenster über Eck sind deshalb ein großes Risiko. Zuletzt lassen sich Zugvögel nachts ablenken, wenn Licht durch Fenster scheint. Alle Arten seien betroffen, von der Meise bis zum Mäusebussard.

Bei einem Haus geht man von 2,1 toten Vögeln pro Jahr aus

Zusammengestellt hat die neuen Zahlen die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Vogelschutzwarten. Sie stützt sich auf die wegweisenden Studien des amerikanischen Ornithologen Daniel Klem schon aus den 1990er Jahren, aber auch auf die Auswertung von 23 weiteren Studien durch ein US-Forscherteam um Scott R. Loss im Jahr 2014. Dieses Team hat herausgefunden, dass im Schnitt 2,1 Vögel pro Jahr an einem Einfamilienhaus zugrunde gehen, knapp 22 je Mehrfamilienhaus oder an Industriegebäuden. Die Vogelschutzwarten haben diese Zahlen jetzt auf Deutschland übertragen. Da in Baden-Württemberg etwa 2,4 Millionen Gebäude stehen, ergibt die Hochrechnung die Zahl von 15,2 Millionen toten Vögeln für den Südwesten – pro Jahr. Damit dezimieren Glasscheiben den Bestand an Vögeln in Deutschland jährlich um fünf bis zehn Prozent. Dagegen ist der Vogelschlag an Windrädern mit geschätzt 80 000 Tieren jährlich in ganz Deutschland deutlich geringer.

Unglaubwürdig klingen die Zahlen zunächst deshalb, weil man als Bewohner selten tote Vögel am Boden findet. Laut Bronner flattern viele Vögel aber noch davon und sterben in der Nähe in einem Gebüsch; und tote Vögel würden schnell von Katzen, Raubvögeln oder Füchsen weggeholt. Es handelt sich also um ein kaum bemerktes Sterben. Dass die genannten Zahlen realistisch zu sein scheinen, hat sich etwa in Mainz gezeigt. Dort wurde ein Jahr lang systematisch die Umgebung des Fußballstadions, also der Opel-Arena, abgesucht, das als großes Gebäude in freier Lage auf einem Berg liegt und viele Glasflächen hat: 1000 tote Vögel wurden gefunden. Mittlerweile sind die Scheiben so gekennzeichnet, dass sie für Vögel nicht mehr gefährlich sind. Tatsächlich ist Mainz deutschlandweit Vorreiter, was den Kampf gegen Vogelschlag anbetrifft, wie das Donnern der Piepmätze gegen Glas etwas verniedlichend genannt wird. Das Mainzer Engagement gründet sich vor allem auf Sonja Gärtner, die seit acht Jahren im Mainzer Umweltamt arbeitet und das Thema dort konsequent bearbeitet. Vor wenigen Tagen war sie zu Gast bei einem Zukunftsforum des Landesnaturschutzverbandes (LNV) in Stuttgart. Längst steht in den Mainzer Bauleitplänen, dass bei großen Glasflächen der Vogelschutz gewährleistet sein muss.

In Mainz ist der Schutz vor Vogelschlag Pflicht

Jeder Bauherr erhält vorab einen Leitfaden, in dem Verständnis geweckt und Lösungen aufgezeigt werden. Und wenn das Bauamt ein Vorhaben mit viel Glas auf den Tisch bekommt, wird automatisch das Umweltamt eingeschaltet, das das Gespräch mit dem Bauträger aufnimmt. „Man muss mit jedem Bauherrn in die Einzelabstimmung gehen, sonst kommt nichts Gescheites heraus“, sagte Sonja Gärtner jüngst bei einer Tagung des BUND. Und fügte hinzu: „Aber vogelschlagsichere Gebäude sind möglich.“

Baden-Württemberg ist noch lange nicht so weit. Der LNV nutzt deshalb jetzt eine Überarbeitung der Landesbauordnung (LBO) im Wirtschaftsministerium, um dort eine Veränderung anzustoßen. Bei zusammenhängenden Glasfronten von mehr als zehn Quadratmetern müssten „verbindlich wirksame Vermeidungstechniken eingesetzt“ werden, heißt es in der Stellungnahme des LNV. Das Ministerium will dieser Anregung aber nicht folgen. Die hohe Zahl an toten Vögeln lasse sich nicht belegen, heißt es auf Anfrage beim Ministerium. Sowieso seien Regelungen zu Fenstern nicht Teil der LBO. Und: „Uns ist keine technische Lösung bekannt, um Glas wirksam vogelschlagsicher zu machen. Deshalb kann man dies auch nicht vorschreiben.“ Was sich tatsächlich als unwirksam erwiesen hat, sind Greifvögel-Silhouetten. Solange sich diese nicht bewegten, nähmen die Vögel sie nicht als Gefahr dar, sagen Experten. Sinnvoll seien dagegen dünne Linien oder Punkte auf den Fenstern – das könne gerne einen grafischen oder künstlerischen Charakter annehmen. Auch Milchglas oder farbiges Glas schütze, ebenso wie dauerhaft angebrachte Jalousien und Lamellen. Einen Überblick bietet eine große Broschüre der Schweizer Vogelwarten mit dem Titel „Vogelfreundliches Bauen mit Glas und Licht“ – es gibt sie im Internet.

Sonja Gärtner hofft zudem auf neue Ansätze: Vor Kurzem, schwärmt sie, habe sie auf der Insel Mainau einen Glaspavillon gesehen – von außen habe man einen roten Vorhang wahrgenommen, doch von innen sei der Vorhang völlig transparent gewesen. Das war toll für den Durchblick der Menschen – und toll für das Wohl der Vögel.