Die Stimmung kochte hoch: Am Samstag warben in Feuerbach Gegner der türkischen Verfassungsänderung um die Unterstützung ihrer Landsleute. Auch die Gegenseite kam zu Wort.

Stuttgart - Wer am Samstag von der Borsigstraße her in die Feuerbacher Mauserstraße einbiegt, dem fallen zwei große Flaggen ins Auge: eine türkische und eine deutsche. Sie wehen am Infostand der Befürworter eines präsidialen Regierungssystems in der Türkei. Musik schallt aus den Boxen. Wer stehenbleibt bekommt einen Geschenkbeutel mit Broschüre, Buttons und türkischem Tee, auf dem das Wort „evet“ prangt. Das heißt „Ja“. Auskünfte gibt es nicht. „Wir machen das aus privatem Antrieb“, erklärt ein Herr in blauem Sakko. Warum dann die AKP-Glühbirne am Stand zu sehen ist, bleibt offen. „Wir haben beschlossen, nicht mit der Presse zu sprechen“, heißt es. „Die verdrehen ohnehin alles. Was man wissen muss, steht im Informationsmaterial.“

 

Als Landesverräter beschimpft

Ein Stück weiter die Straße hinunter, zwischen DITIB-Moschee und Metropol-Bäckerei bauen die Gegner der von Präsident Erdogan angestrebten Verfassungsänderung ihren Stand auf. Kaum liegen die ersten Flyer auf dem Tisch, marschieren Jugendliche mit AKP-Fahnen vorbei. Ein Zufall? „Wir waren schon letzte Woche hier“, sagt Şirin Üstün, stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP in Baden-Württemberg, die mit den Sozialdemokraten vergleichbar ist. „Da mussten wir uns zwischendurch sogar als Landesverräter beschimpfen lassen.“ Die Mauserstraße sei recht konservativ geprägt und ein schwieriges Pflaster, fügt sie hinzu. Umso wichtiger findet sie die Aufklärungsarbeit, die bewusst neutral gehalten ist. Zwar hat die CHP die „Nein“-Aktion in Stuttgart und weiteren Städten des Landes organisiert, Parteisymbole sucht man jedoch vergebens. „Mir geht es nicht in erster Linie darum, ob die Menschen Erdogan oder jemand anders wählen“, gibt der Vorsitzende Kazim Kaya zu verstehen. „Solange es eine Wahlmöglichkeit gibt, ist alles in Ordnung. Unser ,Nein‘ gilt keiner Partei, sondern der Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats zugunsten eines Kalifat-Staats.“ Die Fahnen mit der Aufschrift „Hayir“ (Nein) zieren eine Sonne und ein lachendes Mädchen. „Das symbolisiert für uns Ehrlichkeit und die Zukunft der Türkei“, so Kaya.

Die Stimmung kocht hoch

Es dauert nicht lange, bis erste Diskussionen losbrechen. Die Stimmung kocht hoch. Ein junger Mann im AKP-Shirt beruhigt seinen aufgebrachten Landsmann. Beide Seiten sind bemüht, die Lage nicht eskalieren zu lassen. Auch der Herr im blauen Sacko taucht nach einiger Zeit auf – das Werbematerial für die Zustimmung beim Referendum hat er gleich mitgebracht. Provozieren lässt sich unter den Gegnern der Erdogan-Pläne niemand. Isin Toymaz, Journalistin und Hayir-Verfechterin regt sogar ein gemeinsames Gruppenbild mit Vertretern beider Lager an. „Ich fände es wünschenswert, wenn wir hier, aber auch in der Türkei, offen für unterschiedliche Standpunkte eintreten könnten“, betont sie. „Im Falle eines Erfolgs des Referendums fürchte ich, dass ein extremer Riss durch die türkische Gemeinde in Deutschland gehen wird.“ In Stuttgart sind 143.000 Menschen stimmberechtigt. Deutschlandweit sind es 1,4 Millionen.

Ümit Bilgili, seit 1990 in Deutschland ansässig und Mitarbeiter einer Bank, gesteht, er sei bislang eher unpolitisch gewesen. Der 49-Jährige hat wenig Verständnis für die Unterstützer des Referendums: „Es hat lange genug gedauert, bis sich die humanistischen und demokratischen Ideen in Europa durchgesetzt haben“, stellt er fest. „Die Türkei war in dieser Hinsicht auf einem guten Weg und es wäre tragisch, wenn es nun einen großen Schritt zurückginge.“ Das Referendum läuft vom 27. März bis zum 09. April. Solange wird auch das Engagement der Gegner anhalten.