Die Sängerin Nena hat am Freitagabend in den Stuttgarter Wagenhallen vor fünfhundert Leuten musiziert. Früher war sie die Frau für die ganz großen Hallen.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Pünktlichkeit, sagt der Volksmund, ist die Höflichkeit der Könige. Und so rauschen, stramm entgegen den üblichen Riten des Business, um zwei Minuten vor Acht am Freitagabend drei dunkelgetönte noble Vans an den Wagenhallen vor, um Nena und ihre vielköpfige Entourage auszuspucken. Zwei Minuten später, pünktlich mit dem Gongschlag, steht sie auf der Bühne. Wie einem Jungbrunnen entstiegen sieht die Frau aus, die an diesem Dienstag 56 Jahre alt wird. Tolle Frisur, dazu das, was der Dichter Charles Bukowski wohl einen „Hardbody“ nennen würde. Sehr sehr enge Glitzerjeans, T-Shirt und, nun ja, eine schwarze Fransenlederjacke, ein völlig aus der Zeit gefallenes Modeaccessoire, ganz alte Schule.

 

Aber gut, auch Nena ist ja ein wenig aus der Zeit gefallen. Wie zum Beleg dessen spielt sie schon nach kurzer Zeit das Stück „Ecstasy“, mit dem sie 1980 einmal in der Sendung „Plattenküche“ auftrat. Die wurde seinerzeit von Frank Zander sowie der „Ulknudel“ Helga Feddersen moderiert, die auch schon wieder seit 25 Jahren tot ist und übrigens in Bad Cannstatt in einem Gemeinschaftsgrab mit dem Herzog zu Sachsen beerdigt ist, doch das ist jetzt wiederum eine ganz andere Geschichte . . .

Zurück also in die Wagenhallen, in denen die Königin des deutschen Pop diesmal Hof hält. Das verblüfft angesichts des Umstands, dass ihre letzten zwei Stuttgarter Gastspiele vor ziemlich genau fünf und zehn Jahren in der größten verfügbaren Arena über die Bühne gingen, der Schleyerhalle. Zuletzt, im Jahr 2010, kamen da rund sechstausend Zuschauer, nur knapp die Hälfte des Fassungsvermögens des Riesenrunds – aber immerhin eine Besucherschar, die in dieser Menge allenfalls zwei Handvoll deutscher Pop- und Rockmusiker bei ihren Konzerten begrüßen dürfen.

74 Euro für ein Clubkonzert

Diesmal also ist das vermeintlich alternative Kulturzentrum Wagenhallen erkoren worden. Vielleicht fünfhundert Gäste sind in die bei weitem nicht ausverkaufte Halle gekommen, um dem als „intime Clubtour“ verbrämten Event beizuwohnen. Warum dem so ist, mag der dicke Stapel noch verfügbarer Eintrittskarten zeigen, die an der Abendkasse bereitliegen. 74 Euro kosten sie, ein – sagen wir mal – sportlicher Preis für ein Clubkonzert, oder – sagen wir besser – dreister Preis für ein Clubkonzert, selbst wenn man alle Meriten in die Waagschale wirft, welche sich die gelernte Goldschmiedin Gabriele Susanne Kerner aus Hagen in ihrer langen Karriere erworben hat.

Diese Karriere liest sich einerseits verblüffend stringent: Seit ihren ersten Liveauftritten 1978 und der Debütsingle „Strangers“ mit ihrer damaligen Band The Stripes im Jahr 1979 hat Nena kontinuierlich Alben veröffentlicht und 25 Millionen Exemplare davon verkauft, 18 Stück bis dato, den aktuellen Longplayer „Oldschool“ mitgerechnet. Und auch die andere Seite der Medaille müsste uns ja nicht groß beschweren: dass sich ihr internationaler Erfolg dem Zufall verdankt (die zu trauriger Berühmtheit gelangte Christiane F. hatte damals bei einem USA-Trip die „99 Luftballons“-Single dabei, die einem Radio-DJ in die Hände fiel), dass einiges am Output der fünffachen Mutter Musikalben für Kinder sind, dass sie dem Bhagwan frönt, im Film „Ich geb Gas, ich will Spaß“ agiert hat, das Titelblatt des Otto-Katalogs ebenso wie die Jubiläumsfeier eines deutschen Rüstungskonzern zierte und bei einer relativ scheußlichen Show namens „The Voice of Germany“ mitgewirkt hat. Denn so waren die Zeiten halt.

Und schließlich hat sie doch auch hinreichend Gassenhauer im Koffer. „Nur geträumt“ kommt in den Wagenhallen als erstes, von Nena kokett als „jetzt ein Lied, das keiner kennt“ angekündigt, woraufhin eigentlich ganz schön reife Erwachsene im Publikum plötzlich wie Flummis zu hüpfen beginnen. „Willst du mit mir gehen“ bald darauf, später „Leuchtturm“, wohlwollend gemeint interessant interpretiert, übelkübelnd gesagt rummelplatzmusikmäßig aufgedonnert von ihrer so juvenilen wie vielköpfigen Begleitband, aus deren Gesamtklang man das ganze Konzert über dennoch nur Schlagzeug und Keyboard heraushört. „99 Luftballons“, „Wunder geschehen“ (hier besonders prägnant die akustischen Unzulänglichkeiten der Halle illustrierend) und „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ später im als Zugabe getarnten Teil des Konzerts kommen natürlich auch noch.

Die Beatles und die Ramones

Alles gespielt also, inklusive einer bei derlei Events auch eher selten gesehenen Unterbrechung. „Kleine Atempause gefällig?“ fragt Nena rhetorisch keck von der Bühne herab, ehe sich die Band anschließend doch tatsächlich zum Pausentee verfügt. Zitatenreichtum kommt hinzu, „Hey Jude“ von den Beatles wird ebenso adaptiert und integriert wie „Sheena is a Punkrocker“ von den Ramones. Rückgratdurchziehende Nostalgieschauer sind sowieso inklusive.

Alles bestens also, sollte man daraus folgend meinen. Fragt sich dann bloß, warum zum Gastspiel eines solchen Popmusikstars lediglich fünfhundert Besucher kommen. Begeben wir uns unverfänglich auf Spurensuche. Der freche Eintrittspreis, klar, der schreckt ab. Ebenso der Familieneventcharakter, von den ohrschutzbewehrten Kindern über die rüstigen Senioren im Publikum bis hin zum – uff! – teilhabenden Nenanachwuchs auf der Bühne. Das neue Album vielleicht, das bei einer solchen Retroclassics-Messe ohnehin niemand hören möchte? Die in Tagen wie diesen arglose Leutseligkeit der Protagonistin („Ooooch, ist das schön bei euch hier in Stuttgart“) womöglich? Oder die konturarme Farblosigkeit, in der mit der neuen deutschen Welle denkbare Ausbrüche aus den üblichen Songschemata (man höre beispielhaft als rare Ausnahme die reizvoll gegen den Strich gebürstete Metrik in den Strophen von „Nur geträumt“ gegen den konsensheischenden Refrain) von Nena konsequent verweigert werden?

So eilfertig wie ungerecht wär’s, wollte man diese vor schütter strömendem Publikum ausgetragene Tournee als künstlerische Bankrotterklärung und kommerziellen Offenbarungseid betrachten. Fragen bleiben allerdings, Bauchgrimmen ebenso. Mitleid wäre derweil allemal unangebracht. Verabschieden wir den Abend deshalb mit einer Grußbotschaft in Form der erfolgreich verfilmten Spruchweisheit eines weiteren amerikanischen Radio-DJs. Good Night. And good Luck.