Täter, Mitwisser oder Ignorant? Der ehemalige hessische Verfassungsschützer Andreas Temme rechtfertigt seine Gedächtnislücken vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Berliner Paul-Löbe-Haus.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Der Europasaal im Paul-Löbe-Haus des Bundestags ist an diesem Dienstag überfüllt. Hier tagt der Neonazi-Untersuchungsausschuss. Eigentlich sollte mittags die Sitzung beginnen. Aber der Sessel für die Zeugen ist noch leer. Er spiegelt sich in unzähligen Kameraobjektiven. Alle warten auf den kuriosesten Nebendarsteller der unsäglichen Mordserie, die hier verhandelt wird.

 

In der zweiten Reihe lässt sich derweil ein Mann nieder, der als unscheinbar zu beschreiben wäre, wenn er nicht einen glänzenden Siegelring und einen schon vor 20 Jahren aus der Mode gekommenen Krawattenclip zur Schau tragen würde. Glatze, Kaufhausbrille, brauner Anzug: der Mann kommt daher wie ein Schalterbeamter der Post – was er einmal war. Doch er benimmt sich so auffällig unauffällig, dass es keines hochgeklappten Trenchcoatkragens bedarf, um ihn als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu identifizieren. Er ist der Zeuge, der heute befragt werden soll. Erstmals tritt er öffentlich auf. Er will aber erst auf dem Zeugenstuhl Platz nehmen, wenn Fotografen und Kameraleute des Saales verwiesen sind.

Der Mann spielt eine dubiose Rolle. Er war vor Ort, als am 6. April 2006 in Kassel Halit Yozgat erschossen wurde, das letzte der Neonaziopfer. 41 Sekunden vor dem Mord will er Yozgats Internetcafé verlassen haben, so hat die Polizei errechnet. Und er war der Einzige am Tatort, der sich nicht als Zeuge gemeldet hat. Dazu kommt: dieser Mann war Agent des hessischen Verfassungsschutzes. Er hatte beruflich mit der Neonaziszene zu tun – und selbst eine braune Vergangenheit. Deshalb wurde er in seinem Dorf der „kleine Adolf“ genannt.

Der Reihe nach: Andreas Temme, so der bürgerliche Name des Zeugen, hatte sich vom Postboten zum Oberinspektor des Geheimdienstes hochgearbeitet. Als solcher betreute er so genannte V-Leute, darunter einen Spitzel aus rechtsextremistischen Kreisen. Auch Kontakte zum Rockermilieu wurden ihm nachgewiesen. Außerdem besaß er mehrere Waffen – Temme war Mitglied eines Schützenvereins. Obwohl frisch verheiratet, suchte er in seiner Freizeit häufig Internetcafés auf. Dort verwandelte sich der Oberinspektor in „wildman70“. Unter diesem Pseudonym flirtete er online mit Frauen. So auch am Mordtag .

„Das Ganze hatte mit mir als Mensch zu tun, aber nicht mit mir als Verfassungsschützer“, erzählt er rückblickend. Der leitende Ermittler von damals glaubt nach wie vor, dass Temme die tödlichen Schüsse gehört und die Leiche gesehen haben müsste. Der ehemalige Agent, inzwischen in eine harmlosere Behörde versetzt, behauptet aber vor dem Untersuchungsausschuss: „Ich war’s nicht. ich hab’ nichts wahrgenommen. Und es gibt auch keinen Grund, warum ich etwas, was ich wahrgenommen haben könnte, verschweigen sollte.“

Die Polizei war Temme mit Hilfe der Internetprotokolle auf die Schliche gekommen. Der Mann hatte sich bei der Flirtline zwar mit falschem Namen, aber mit echter Handynummer angemeldet. Sein Verhalten nach dem Mord war ähnlich professionell. Er habe sich geschämt, seiner schwangeren Ehefrau die virtuellen Seitensprünge zu beichten, und seine Anwesenheit am Tatort deshalb verschwiegen, sagt Temme. Als er davon erzählt, tonlos, unartikuliert wie die gesamte stundenlange Zeugenaussage, da bricht seine Stimme ab, er blickt zu Boden, entschuldigt sich – und redet weiter, als wäre alles nur einstudiert, wenn auch miserabel inszeniert.

Ende 2006 wurde Temme festgenommen, kam in U-Haft. Aber das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Die hessische Landesregierung verhindert, dass Temmes V-Mann von der Polizei vernommen werden kann, obwohl er sich mit diesem über die Tat unterhalten hat. Der Grüne Wolfgang Wieland spricht seinen Kollegen im Untersuchungsausschuss aus der Seele, als er zu Temme sagt: „Treten Sie mal einen Schritt neben sich und fragen Sie sich, ob Sie das alles selbst glauben würden.“