Der Streamingdienst Netflix macht ARD und ZDF mächtig Konkurrenz mit der Miniserie „Zeit der Geheimnisse“, einer Weihnachtsgeschichte über drei Generationen von Frauen.

Stuttgart - Eva hat ihr Leben der Familie hingegeben, einem chronisch kranken, letztlich kurzlebigen Hypochonder von Mann und der wilden Tochter Sonja, die dann mit einem RAF-Sympathisanten durchgebrannt ist. Doch Eva bleibt nicht lange allein mit der osteuropäischen Haushälterin Ljubica (Anita Vulesica) in dem alleinstehenden Reetdach-Haus in den Dünen – bald kümmert sie sich dort um zwei Enkelinnen von unterschiedlichen Vätern.

 

Corinna Harfouch spielt diese Matriarchin in der Netflix-Miniserie „Zeit der Geheimnisse“ mit vornehmer Zurückhaltung: Stille Wasser sind tief. Tatsächlich trägt ihre Figur das schwerste Päckchen mit sich herum in einem von heiklen Beziehungslagen bestimmten Frauenensemble, das sich zusammenraufen muss. Die Serien-Schöpferin Katharina Eyssen hat mehrere Zeitebenen dicht miteinander verwoben, munter springt die Handlung hin und her. Als Fixpunkte dienen das Haus und Weihnachten. Männer treten zwar auf, vom Tennisplatz-Erben-Normalo über den Dorfpolizisten bis hin zum RAF-Terroristen, sie dienen aber nur als Spiegel weiblicher Selbstreflexion.

Komplexe Anlage

In der filmischen Gegenwart steckt Eva tief in der Demenz wie einst ihre eigene Mutter. Wie ein Gespenst geistert die Harfouch durchs Haus und ist dabei für manche Überraschung gut. Die Enkelinnen Vivi (Svenja Jung) – willensstark und unstet wie die Mama – und Lara (Leonie Benesch) – der bebrillte Inbegriff der braven, grauen Maus – sind gegensätzlich, aber versöhnt. Bis unverhofft ihre Mutter Sonja auftaucht und wie immer alle durcheinanderbringt. Christiane Paul muss dazu kaum mehr tun, als anwesend sein und die Zerknirschung einer Frau mimen, die einst ihre Kinder zurückgelassen hat.

Das ist auf der mittleren Zeitebene zu sehen, außerdem Sonjas wilde Jugend mit wechselnden Liebschaften und Selbstfindungsphasen sowie Schlaglichter aus ihrer Kindheit. Harfouch und Paul spielen die letzten beiden Ebenen durch, ansonsten wechseln die Darsteller, ohne dass große Zuordnungsprobleme entstehen – bei einer so komplexen Anlage keine Kleinigkeit. Als würde das nicht genügen, gehen die Konflikte wirklich ans Eingemachte. Jede der Frauen fühlt sich auf ihre Art missverstanden, übervorteilt, verraten – dabei wollen alle einander eigentlich nur mögen. Während die Sippe sich Weihnachten nähert, fördert sie immer neue Schatten aus der Vergangenheit zutage, manche davon im Dialog oder gar im Voiceover – aber eben nicht alle.

Zielstrebig durchs Beziehungsdickicht

So landen sie zwischen den Stühlen. „Zeit der Geheimnisse“ wirkt wie ein ganz klassisches öffentlich-rechtliches Fernsehspielformat, erklärt aber nicht alles haarklein und nimmt den Zuschauern nicht weitgehend das Denken ab. Die Schauspielerinnen – die unangreifbare Harfouch ausgenommen – verfallen nur ganz punktuell in hölzernes Chargieren und schweres Atmen. Zudem bietet die Miniserie starke Momente der Wahrheit, mutig hält sie radikalere Wendungen aus und bahnt sich zielstrebig einen Weg durchs undurchdringlich erscheinende Beziehungsdickicht. Dabei bleibt sie fesselnd und anrührend genug, um auch anspruchsvollere Zuschauer bis zum Schluss bei der Stange zu halten.

Frischer als die übliche deutsche TV-Unterhaltung

Natürlich erreicht „Zeit der Geheimnisse“ nicht das Niveau großer US-Dramaserien wie „This is us“, von exzellenten Sitcoms wie „Modern Family“ ganz zu schweigen – aber die Produktion wirkt doch deutlich frischer und genauer durchdacht als viele fiktionale Unterhaltungsproduktionen deutscher Sender. Das fängt mit der Kulisse an, die hier eben kein hübsches, aber beliebiges Postkartenmotiv ist, sondern ein widersprüchlicher, ebenso heimeliger wie einsamer Ort, an dem Geheimnisse gut gedeihen können.

Netflix spielt bei internationalen Qualitätsserien vorne mit („House of Cards“, „Stranger Things“), hat heimatlose Kinoregisseure wie Alfonso Cuarón („Roma“), die Coen Brothers („The Ballad of Buster Scruggs“) und Martin Scorcese („The Irishman“) eingesammelt. Nun zeigt der Streamingdienst, dass er auch deutsche Fernsehunterhaltung kann – weil er den Mut hat, jungen Kreativen zu vertrauen. Das gilt für Katharina Eyssen (36) ebenso wie für ihre Produzenten Jochen Laube (41) und Fabian Maubach (39) von der Ludwigsburger Firma Firma Sommerhaus. Vielleicht braucht es diesen Impuls, damit ARD und ZDF aufwachen, bevor die Gebührendiskussion mal wieder so richtig in Fahrt kommt.

Rund um die Uhr auf Netflix verfügbar.