Christian Schwochow zeichnet in „Je suis Karl“ das unheimliche Bild einer rechten Europabewegung für die Hipster-Generation – und stellt damit kurz vor der Bundestagswahl eine brennend wichtige Frage.

Berlin - Die Welt ist nicht Ordnung mit ihren Konflikten und Katastrophen, der Kluft zwischen den Kulturen, zwischen Arm und Reich. Alex Baier (Milan Peschel) und dessen Frau Inès (Mélanie Fouché) wissen das. Einmal haben sie Fluchthilfe geleistet und damit auch ihren Anteil für mehr Gerechtigkeit, für Yusuf (Azis Dyab), der eine bessere Zukunft in Deutschland wollte.

 

Familie Baier lebt in einem bunten Berliner Kiez, zusammen mit der halb erwachsenen Tochter Maxi (Luna Wedler) und zwei Nachkömmlingen im Vorschulalter. Die Kinder wachsen behütet und glücklich auf, bis zu dem Tag, als Alex für eine Nachbarin ein Paket annimmt. In Wahrheit eine Bombe, die wenige Minuten, nachdem Alex das Haus verlassen hat, in die Luft fliegt, und Inès mit den beiden Jungen in den Tod reißt.

Verrückt vor Trauer

Während Alex Baier fast verrückt wird vor Trauer um seine Frau und seine beiden Söhne, wird seine Tochter Maxi von ungeheurer Wut gepackt. Zum Glück trifft sie Karl (Jannis Niewöhner), einen netten, smarten, sehr verständnisvollen jungen Mann, der Maxi helfen will, ihre Wut zu kanalisieren und positiv zu nutzen – für die Arbeit in einer neuen europäischen Bewegung namens Re/Generation.

„Je suis Karl“ heißt Christian Schwochows Film über eine fiktive internationale Jugendbewegung, die nicht nur unheimlich wirkt, weil sie manchmal an eine Sekte erinnert, sondern auch, weil sie der Drehbuchautor Thomas Wendrich aus bekannten Versatzstücken realer rechtspopulistischer Gruppierungen und Ideologien zusammengesetzt hat.

Diese Neu-Rechten, denen Maxi in ihrer Trauer und Wut bereitwillig auf den Leim geht, haben äußerlich keinerlei Gemeinsamkeiten mit aggressiven Neonazis, die seit den Neunzigern ihren plump-brutalen Rassismus an Asylsuchenden und anderen Randgruppen ohne Lobby ausagieren. Karl und seine Anhänger sind modisch gekleidet, mehrsprachig, gebildet und international vernetzt. Maxi folgt Karl auf ein Massenevent nach Tschechien und schließlich nach Straßburg, wo Re/Generation die Kampagne der rechtskonservativen Politikerin Odile Leconte (Fleur Geffrier) unterstützt. Mit der Galionsfigur Maxi als überlebender Zeugin eines feigen Terroranschlags, den Re/Generation kamerawirksam als Tat radikaler Islamisten verkauft.

Ein neuartiger Ideologiecocktail

Christian Schwochow und Thomas Wendrich zeichnen das Bild einer Bewegung, die wie die tatsächlich existierenden Identitären moderne Lifestyle-Trends, nationalen Chauvinismus, Ressentiments und pseudoreligiöse Gruppenerlebnisse zu einem scheinbar neuartigen Ideologiecocktail verrührt. Damit begeistert sie im Film hippe junge Menschen, die einerseits von einer besseren Welt träumen, andererseits aber simple Lösungen für komplexe Probleme suchen.

Ganz anders als Maxi geht der Zuschauer diesen Rechten jedoch nie in die Falle, weil er von Anfang an viel mehr weiß als die zornige, wild in Karl verliebte und von Luna Wedler mit verzweifelter Verve verkörperte Protagonistin. In gewisser Weise ist das eine kleine Schwäche des Films, weil man nie Maxis Überwältigungserfahrung teilen kann, um anschließend umso ernüchterter daraus hervorzugehen.

In einem zweiten Handlungsstrang erfährt man, mit welch perfiden Mitteln Karl und die Gruppe eine Parallelrealität für Maxi zimmern, um ihr die Notwendigkeit des Kampfes gegen einen unsichtbaren und deshalb eben besonders gefährlichen Feind wasserdicht zu begründen. Dass sich der Demagoge Karl auf dem Höhepunkt der Geschichte selbst zum Märtyrer aufschwingen wird, ist schon durch den Filmtitel in Anlehnung an den Ausruf „Je suis Charlie“ vorprogrammiert.

Mit emotionaler Wucht

Den hatte ein vom islamistischen Terroranschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ entsetzter französischer Journalist geprägt. Seitdem wird die Formel in verschiedenen Zusammenhängen als Solidaritätsbekundung mit Gewaltopfern verwendet. Im Film wird er von Karls Leuten pervertiert und gegen erfundene islamistische Attentäter gewendet.

Als Porträt einer fiktiven Gruppierung, die sich aus dem Gedankengut von Parteien wie Front National, PiS, AfD, FPÖ, UKIP, Lega Nord und diversen anderen speisen könnte, entfaltet der Film auch wegen seiner sehr starken Bilder emotionale Wucht. Anschaulich wird die Frage erörtert, ob wir nicht selbst die größten Feinde unserer Demokratien sind, wenn wir bereitwillig populistischen Ideen immer mehr Raum in der sogenannten bürgerlichen Mitte geben. Kurz vor der Bundestagswahl ist das eine brennend wichtige Frage.

Je suis Karl. Deutschland 2021. Regie: Christian Schwochow. Drehbuch: Thomas Wendrich. Mit Luna Wedler, Milan Peschel, Jannis Niewöhner, Azis Dyab. 126 Minuten. Ab 12 Jahren.

Preisverdächtige – vor und hinter der Kamera

Regie
 Christian Schwochow, Jahrgang 1978, wuchs in der ehemaligen DDR auf. Sein Filmregie-Studium absolvierte er an der Filmakademie Baden-Württemberg, heute lebt er in Berlin. Für seine Verfilmung von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ wurde Schwochow 2013 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, „Je suis Karl“ wurde in diversen Kategorien des Deutschen Filmpreises nominiert. Mit dem Thema Rechtsradikalismus hat er sich schon 2016 als Regisseur des Films „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ über den NSU auseinandergesetzt. 2019 verfilmte er Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“.

Schauspieler
 Der 1992 in Krefeld geborene Jannis Niewöhner stand schon als 10-Jähriger in einem „Tatort“ vor der Kamera, scheiterte aber mit 16 an der Aufnahmeprüfung der Berliner Schauspielschule Ernst Busch. Für seine Mitwirkung in Marco Kreuzpaintners Serie „Beat“ wurde Niewöhner 2019 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Luna Wedler, Jahrgang 1999, stammt aus Zürich und debütierte mit 14 Jahren beim Film. In der Instagram-Serie „Ich bin Sophie Scholl“ (SWR/BR) verkörpert Wedler die im Alter von 22 Jahren von den Nazis ermordete Widerstandskämpferin. Schon mehrfach wurde Wedler ausgezeichnet.