Der zweite Langspielfilm des Nachwuchsregisseurs Ari Aster ist grausam – aber auch eine zutiefst tröstliche Fantasie über den Umgang mit psychischer Gewalt.

New York - Man kann sich fragen, aus welchen traurigen Erfahrungen sich die Filmbilder speisen, die der erst 33-jährige Amerikaner Ari Aster in seinem zweiten Langspielfilm „Midsommar“ auf die Leinwand wirft. In den ersten Minuten begegnet man der völlig aufgelösten Dani (Florence Pugh), die nach einer beängstigenden E-Mail ihrer psychisch kranken Schwester versucht, die Eltern per Telefon zu erreichen. Während die Psychologiestudentin tränenüberströmt und wimmernd dem durchdringenden Freizeichen am anderen Ende der Leitung lauscht, weiß der Zuschauer durch einen Umschnitt in Danis Elternhaus längst, das etwas nicht stimmt. Das Telefon schrillt und schrillt, doch die Eltern liegen regungslos in ihren Betten. Das Kameraauge fliegt weiter durch die Räume und hält schließlich in einem Zimmer an, wo Danis Schwester mit glasigem Blick auf dem Fußboden kauert. Mund und Nase sind von einem mit Klebeband fixierten Schlauch verdeckt, durchströmt von Abgasen aus dem in der Garage im Leerlauf ratternden Familienwagen. Als die Polizei am Unglücksort eintrifft, ist die gesamte Familie bereits tot. Für Dani bricht die Welt zusammen.

 

Der Regisseur sprengt jede Genregrenze

Wer Ari Asters grandioses Debüt, die mystische Familientragödie „Hereditary“ im letzten Jahr gesehen hat, weiß, dass der Filmemacher sein Publikum nicht in Watte packt. Aufgrund seiner makaberen Details wurde „Hereditary“ in die Horrorschublade verräumt, genauso wie nun der nicht minder eindrucksvolle Nachfolger „Midsommar“. Dabei sprengt Aster jede Genregrenze. Trauerbewältigung ist bei ihm bestimmendes Thema, und so kann man denn auch die erschütternde Exposition von „Midsommar“ als Versuch des Regisseurs deuten, das Publikum Danis Trauma so intensiv wie möglich nachempfinden zu lassen, um so ein tieferes Verständnis für die Not einer Frau zu schaffen, die nicht nur vom erweiterten Suizid ihrer Schwester traumatisiert wird.

Danis Freund Christian (Jack Reynor) will seit langem seine labile Freundin verlassen. Mit seinen Freunden lästert er sogar über sie. Doch nun beschließt Christian aus Mitleid, bei ihr zu bleiben. Zusammen mit Josh (Will Poulter), Mark (William Jackson Harper) und Pelle (Vilhelm Blomgren) plant er einen Trip nach Schweden zu Pelles Familie anlässlich einer besonderen Mittsommerfeier. Widerwillig lädt er seine trauernde Freundin ein, die Gruppe zu begleiten.

Eine monströse, aber auch tröstliche Fantasie über den Umgang mit Trauer und Verlust

Dass Pelles Familie wie eine Sekte aus dem vorigen Jahrhundert abgeschieden in einer Landkommune lebt, gehört zu den wenigen Zugeständnissen, die Aster hinsichtlich des Horror-Etiketts macht. Das wahre Entsetzen speist sich hier nicht aus den extremen, theaterhaft inszenierten Ritualen, die Pelles Verwandte zur Erneuerung ihres Kultes feiern. Es ist die seelische Grausamkeit der anderen gegen Dani, die sprach- und hilflos macht. Mit enormem Einfühlungsvermögen spielt Florence Pugh eine Frau, die sich in ihrem bisherigen Leben auf nichts und niemanden verlassen konnte, die schutzlos den passiv-aggressiven Verhaltensmustern ihrer Schwester und ihres Freundes ausgesetzt ist und sich deshalb selbst stets zurückgenommen hat. Die fraglos verstörenden Mittsommer-Rituale ermächtigen Dani allmählich, sich ihrer eigenen Rolle innerhalb der fiesen Ränke der anderen bewusst zu werden. Aster stellt sie quasi als einzige lebendige Figur ins Zentrum eines morbiden Marionettenzaubers und lässt damit die Tradition des schaurigen Pariser Grand-Guignol-Theaters Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufleben. Die Gewaltdarstellungen sind zwar drastisch, aber auch künstlich-plakativ; wie damalige Bühnenillusionisten lässt der Filmemacher etwa Köpfe aus Pappmaché platzen. „Midsommar“ funktioniert wie eine überwältigende, hypnotisierend schöne Dämonenaustreibung und Heilungszeremonie, aus der Danis geschundene Seele gestärkt hervorgeht. Eine monströse, im Kern jedoch zutiefst tröstliche Fantasie über den Umgang mit Verlusten.

Midsommar. USA 2019. Regie: Ari Aster. Mit Florence Pugh, Jack Reynor, Will Poulter, William Jackson Harper. 147 Minuten. Ab 18 Jahren.