„Ghosteen“, das neue Album von Nick Cave & The Bad Seeds, ist eine schwerelose, elegische Studie in musikalischer Schönheit. Einfühlsamer, intimer klang die Band nie.

Stuttgart - Es sind seine Fieberlieder. So beschrieb Nick Caves Ehefrau Suzie Bick schon voriges Jahr die neue Musik, die ihr Mann sich in Los Angeles aus dem Herzen schnitt. Lange war nicht klar, wann diese Fieberlieder erscheinen würden, dann, urplötzlich, ließ Nick Cave die Katze aus dem Sack. Ohne Getöse, ohne das typische Drama, das die Plattenfirmen gern rund um die Veröffentlichung eines neuen Albums inszenieren. Sondern indem er die Frage eines Fans auf seiner Webseite „Red Hand Files“ beantwortete. Einfach so.

 

Jetzt, kaum eine Woche später, ist „Ghosteen“ da. Das 18. Album mit seiner Bad Seeds, ein Doppelalbum gar, das erste seit „Abbatoir Blues/The Lyre of Orpheus“ (2004). Es zeigt einen veränderten Nick Cave, einen gewandelten Künstler, vor allem aber einen gewandelten Menschen, der seit dem Unfalltod seines Sohnes Arthur 2016 viel über das Leben, die Conditio humana, nachgedacht hat. Er gibt keine Interviews, hat dafür seine „Red Hand Files“ eingerichtet, wo ihn Fans alles fragen können. Und das meint er auch so. Er gibt keine gewöhnlichen Konzerte, sondern „Conversations“, also Unterhaltungen, bei denen er sich zwischendurch mal ans Piano setzt. Seine Tournee Anfang 2020 ist bereits so gut wie ausverkauft.

„Ghosteen“ setzt fast trotzig auf Schönheit

Erst „Ghosteen“, so wird jetzt deutlich, ist das Album nach dem Tod seines Sohnes. „Skeleton Tree“, das geisterhaft-verstörende Meisterwerk von 2016, erschien zwar nach dem tragischen Vorfall, war aber bereits fertig geschrieben, als Arthur in Südengland von einer Klippe stürzte. „Ghosteen“ zeigt, was Nick Cave durchgemacht hat, nicht etwa mit gotischem Pathos, verzerrter Post-Punk-Wucht oder hörbar gemachter Verzweiflung. Sondern mit Schönheit. „Ghosteen“ ist vieles, aber vor allem eines: ein wunderschönes, ein kostbares Album. Fast schon trotzig angesichts der Dunkelheit, die in sein Leben gekrochen war.

Rein musikalisch schreibt das Album die 2013 mit „Push The Sky Away“ begonnene Mär fort. Ruhige, schwerelose, melancholische Lieder über die Schönheit und die Grausamkeit des Lebens. Wenn Cave das stattliche Piano erklingen lässt und „Waiting for you“ singt, dazu nur einige warme Synthesizer im Hintergrund, fühlt man sich einerseits an die zerbrechliche Schönheit von „Nocturama“ erinnert. Andererseits spürt man, dass hier nicht einfach nur ein Künstler ein paar neue Songs geschrieben hat. Sondern Erlösung gesucht – und teilweise auch gefunden hat.

Ein Album wie ein Mantra

In seinen Arrangements und der musikalischen Ausgestaltung durchaus näher an den Soundtrackarbeiten von Cave und seinem bärtigen Kumpel Warren Ellis, ist „Ghosteen“ ein Album wie ein Mantra. Es strahlt Ruhe und Frieden ab, besingt auch mal Elvis in Las Vegas, vermittelt mit unerschütterlicher Sicherheit das Gefühl, dass irgendwie und irgendwann doch alles gut werden wird. Musik hat diese Fähigkeit – wenn sie von ganz tief innen kommt.

Das war bei Nick Cave & The Bad Seeds natürlich schon immer so. Es klang nur anders. In den Achtzigern aus Australien nach London und wenig später nach West-Berlin gekommen, lebte sich Cave erst in den kakofonen Post-Punk-Monolithen von The Birthday Party aus, bevor er mit Blixa Bargeld (Einstürzende Neubauten) die Bad Seeds formierte. Die dienten ihm mal als Katalysator für seine rauschhaften Klangfantasien, mal als Katharsis zwischen Americana, Blues und Southern Gothic, mal als musikalisches Abbild eines Schauerromans. „The Mercy Seat“, sein vielleicht prägendstes Stück, zeigt gut, wofür diese Band früher stand: Fiebrige Stimmung, zersetzt von alttestamentarischen Bildern und verwaschener Monotonie, gesteigert ins Unerträgliche. Er war der Schmerzensmann der Alternative Welt, ein dunkler Priester, dem man überallhin folgte. Das ist alles lange her.

Nick Cave hat sich eine komplett neue Stimmfarbe zugelegt

„Where the wild Roses grow“ mit Kylie Minogue, eine blutdürstende Moritat über einen ziemlich üblen Typen, wurde zum unwahrscheinlichsten Erfolg der über 35-jährigen Bandgeschichte, ansonsten tauchten die Bad Seeds herzlich selten im Musikfernsehen oder im Radio auf. Daran wird „Ghosteen“ nichts ändern. Unterteilt in zwei Alben, sind die ersten acht Songs („die Kinder“, wie Cave sagt) voller zeitloser Schönheit. Behutsam arrangiert, spärlich instrumentiert, mit einer Gesangsbreite, die man von Cave so noch nie gehört hat und die bei „Spinning Song“ oder dem bewegenden „Bright Horses“ bis ins Falsett reicht.

Andere Sänger verlieren mit Anfang sechzig ihrem Stimmumfang. Nick Cave hat sich für „Ghosteen“ eine komplett neue Stimmfarbe zugelegt. Sie passt zu den stillen kleinen Kunstwerken wie das präsente Piano, die blubbernden Prog-Keyboards, die sakrale Aura. Man fragt sich nur, was Schlagzeuger Thomas Wylder im Studio gemacht hat: „Ghosteen“ kommt komplett ohne Rhythmen aus.

„There is nothing more valuable than Love“ heißt es in „Galleon Ship“. Und birgt die Essenz des Albums, des Lebens gar, wenn man das so formulieren möchte. „Ghosteen“ und „Hollywood“, die beiden überlangen Stücke des zweiten Albums, stechen da ein wenig heraus. Sie sind das, was Cave als „die Eltern“ bezeichnet. Kein Wunder vielleicht, dass die Zartheit, die Unschuld hier gegen eine dräuende, zerrende Aura eingetauscht wurde. Sie künden von schlaflosen Nächten und Zweifeln, von Rastlosigkeit. Unruhig und ein wenig beklommen endet das Album, zum Teil Film-Noir-Soundtrack, zum Teil als Nachtfahrt durch die Hollywood Hills. Hier, ganz am Ende, merkt man, dass man sich selbst doch nicht entkommen kann. Und deswegen schleunigst Frieden mit sich schließen sollte.