CDU und FDP fordern aufgrund der Erkenntnisse aus der Coronakrise, die Verkehrsbeschränkungen in Stuttgart abzuschaffen. Haben die Vertreter der Parteien den komplexen Sachverhalt nicht verstanden?

Stuttgart - Die Dieselfahrverbote in Stuttgart bereiteten ihnen schon länger großes Unbehagen, nun gehen der CDU-Bundestagsabgeordnete Joachim Pfeiffer (Rems-Murr-Kreis) sowie der Stuttgarter FDP-Kreisvorsitzende und Stadtrat Armin Serwani in ihrer Ablehnung aufs Ganze. Das liegt daran, dass die Luftbelastung mit Stickstoffdioxid (NO2) im März nicht so niedrig war, wie die beiden Politiker es erwartet hätten, weil wegen der Coronakrise und dem Stillstand des öffentlichen Lebens weniger Autos fuhren.

 

Die Messungen durch die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) hätten die Absurdität des Dieselfahrverbots aufgedeckt, erklärte Pfeiffer. Trotz Verkehrsrückgang in der Größenordnung von 40 Prozent seien sogar teilweise mitten in der Nacht NO2-Spitzenwerte gemessen worden. „Der Diesel kann nicht weiter als Sündenbock für die NO2-Messwerte herhalten“, folgerte Pfeiffer, „pauschale Fahrverbote sind keine Lösung. Das sollten jetzt selbst Minister Hermann und die Grünen erkennen.“ Und in seiner Pressemitteilung bezeichnete er die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die republikweit Gerichtsurteile zugunsten von Dieselfahrverboten erwirkt hatte, gleich noch als „semikriminelle“ Organisation.

Der FDP-Politiker Serwani war auch „verblüfft“. Er meinte, der „viel beschworene Zusammenhang zwischen Dieselverboten und verbesserten Luftwerten ist nicht haltbar“. Die Landesbehörden müssten nicht nur auf weitere Fahrverbote verzichten, sondern auch die bestehenden auf den Prüfstand stellen.

Zwei grüne Minister haben CDU und FDP ermutigt

Die Tür für diese Forderung hatten die grünen Minister Franz Untersteller (Umwelt) und Winfried Hermann (Verkehr) allerdings auch aufgestoßen. Untersteller hatte unserer Zeitung gesagt, er nehme an, dass sich die Fahrverbote in Stuttgart wegen Überschreitung des NO2-Grenzwertes erledigt hätten, weil die Coronakrise zu anderen Arbeitsweisen führte und das Verkehrsaufkommen dauerhaft beeinflusst werde. Und sein Parteifreund Hermann bat das Verwaltungsgericht um eine „Atempause“ bei der Luftreinhaltung, damit man die neuen Messwerte betrachten und Konsequenzen erwägen könnte. In dem Zusammenhang geht es allerdings nicht um schon bestehende Fahrverbote, sondern um zusätzliche Verbote für Euro-5-Diesel in der Stuttgarter Innenstadt, Feuerbach, Zuffenhausen und Bad Cannstatt. Pfeiffer und Serwani aber nutzten die neue Entwicklung, um sich pauschal gegen Fahrverbote zu wenden.

Ihre Argumentation ruft jedoch Einspruch hervor. Rainer Kapp, Leiter der Abteilung Stadtklimatologie im städtischen Amt für Umweltschutz, wundert sich jedenfalls eher über die Schlüsse der beiden Politiker als über die gemessenen NO2-Werte. Unserer Zeitung sagte Kapp auf Anfrage: „Für uns ist es keine Überraschung, sondern gut erklärbar, was bei den NO2-Werten gerade zu beobachten ist.“ Und weiter: „Wir ziehen daraus nicht das Fazit, dass sich deswegen Dieselfahrverbote verbieten würden.“ Man müsse schon die Komponenten Luftaustausch und Luftchemie bedenken, um die jüngste Entwicklung zu verstehen.

Kurz gesagt: Der Effekt der geringeren Verkehrsemissionen sei teilweise überdeckt worden durch andere Phänomene wie besondere Witterungsbedingungen. Kapp ist sich sicher: „Hätten wir in den vergangenen Tagen und Wochen die üblichen Emissionen vom Verkehr gehabt, wären Ende März und in den April hinein sicherlich noch Tage mit Überschreitung des Feinstaubgrenzwertes und höhere NO2-Messwerte aufgetreten.“ Er warnt vor der Annahme, dass 30 bis 40 Prozent weniger Verkehr automatisch einen 30- bis 40-prozentigen Rückgang der Schadstoffwerte bedeute. Relevant seien auch Luftaustausch, Schadstofftransport in der Luft sowie chemische Prozesse unter Sonneneinwirkung.

Winfried Hermann warnt vor Missverständnis

Aus den Auspuffen kommt ja vor allem Stickstoffmonoxid (NO)*. Zusammen mit Ozon bildet sich daraus NO2, das nachts mangels Sonnenlicht nicht wieder abgebaut wird. An Sonnentagen wie in jüngerer Zeit bei stabilen austauscharmen Wetterlagen bleibt es daher lang erhalten. Dazu schlägt sich auch in Messwerten von straßennahen Messstationen die Hintergrundbelastung der Luft mit NO2 und vor allem mit Feinstaub nieder.

Auch Verkehrsminister Hermann warnt nun vor Fehlinterpretationen. Dass der Straßenverkehr Hauptverursacher der Luftbelastungen mit NO2 sei, habe die Wissenschaft bewiesen, sagte er unserer Zeitung. Das würden auch die aktuellen Messwerte in Stuttgart für 2020 und besonders für die zweite März-Hälfte zeigen. Im Januar und Februar seien die Werte „sowohl aufgrund der ergriffenen Maßnahmen zur Luftreinhaltung als auch aufgrund des günstigen Wettereinflusses soweit zurückgegangen, dass alle Messstationen des Talkessels im Bereich des Grenzwertes lagen“. Im März habe dann noch zusätzlich der Verkehrsrückgang aufgrund der Coronakrise mitgespielt. Dadurch seien in diesem Monat alle Stuttgarter Messstationen, „auch die Hotspots an Pragstraße und Talstraße“, im Bereich der Grenzwerte oder darunter gelegen.

Diese Zusammenhänge, sagt Hermann, seien „für den interessierten Laien nicht immer einfach zu verstehen. Man dürfe es sich beim Umweltschutz jedoch nicht so einfach machen, mit wenigen Werten ein komplexes Gefüge beurteilen zu wollen.

Die DUH hatte schon Ende März Minister Untersteller als „ahnungslos“ kritisiert. Da werde neuerdings mit Monatswerten argumentiert, sagte Geschäftsführer Jürgen Resch. Beim 40-Mikrogramm-Grenzwert handle es sich aber um einen Jahresmittelwert. Der müsse auch außerhalb der Coronakrise eingehalten werden.

Die Verkehrsmenge sank, die Schadstoffbelastung nicht durchgängig

Am 19. März fuhren beispielsweise an der Messstelle Neckartor 44 016 Fahrzeuge. Am 5. März waren es 62 684 gewesen – ein Minus von rund 30 Prozent. Gegenüber dem 19. März 2019 betrug das Minus sogar 37,4 %. Nach Berechnungen unserer Zeitung aus 711 Stundenwerten lag die Luftbelastung mit NO2 im März 2020 am Neckartor im Mittel bei 37 Mikrogramm, damit sogar leicht höher als im Februar, da die Coronakrise noch nicht durchgeschlagen hatte.

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version war die Rede davon, dass NO bei Ausstoß in geschlossenen Garagen bekannte und gefährliche Vergiftungserscheinungen verursacht. Das ist so nicht korrekt. Hier geht es um Kohlenmonoxid.