Abstand, Hygiene, Versammlungsverbot: Das Corona-Virus hat den klassischen Musikbetrieb in eine Krise gestürzt. Die kann aber auch eine Chance sein, findet unsere Musikredakteurin Susanne Benda.

Stuttgart - Gut zwei Monate lang waren die Orchestermusiker unsichtbar: vom Coronavirus in den Untergrund getriebene Klangarbeiter. Jetzt sind sie wieder da. Ihre Rückkehr findet aber nicht mit Pauken und Trompeten statt, sondern sehr langsam und sehr leise. Außerdem hat sich unsere Sicht auf das Kollektiv verändert. Was in Vorkrisenzeiten als Summe in Erscheinung trat, zeigt jetzt seine Einzelteile. Die Masse zerbröselt. Die guten Hundertschaften des SWR-Symphonieorchesters und des Stuttgarter Staatsorchesters spielen jetzt einzeln oder in Kleingruppen. Wer ihnen lauscht, der spürt, wie viel Leben und Energie Livekonzerte schenken – damit kann kein Streamingangebot und keine Tonkonserve mithalten. Außerdem hört (und bestaunt) er die Qualität von Individuen, die er sonst nur als funktionierende Teile eines Klangganzen wahrgenommen hat. Die kleinen „1:1“-Konzerte – ein Musiker, ein Zuhörer – sind Konzentrate. Sie erinnern daran, dass Kunst, zumal die performative, direkte Kommunikation zwischen der Künstlerin/dem Künstler und einem Rezipienten ist, der etwas zurückgibt: Konzentration, Hingabe, Wertschätzung, eine emotionale Reaktion. (Klang-)Kunst ist nicht nur schön und macht viel Arbeit, sondern sie braucht auch jemanden, auf den sie wirken darf: als Gegenpol, Korrektiv oder als Utopie. In kleinen Konzertformaten ist diese Wirkung unmittelbar zu erleben. Man sollte sie mitnehmen in Post-Corona-Zeiten. Wenn sich Zuhörer persönlich angesprochen und berührt fühlen, kann es eine Krise der Klassik nicht geben.