Neue Netflix-Serie: Criminal Dramatische Kammerspiele

Die Netflix-Serie „Criminal“ ist ein außergewöhnliches Projekt: Vier europäische Teams geben Einblick in Verhörsituationen und erfinden damit den TV-Krimi neu.
Stuttgart - Herr Müller hat eigentlich gar keine Zeit. Die Zusammenarbeit mit dem jungen Mann aus dem Osten, der ihm 1991 das Haus renoviert hat, ist ja auch schon lange her, die Erinnerung nicht mehr taufrisch. Das müssen die Beamten doch verstehen. Die Leute von der Kripo wollen aber nicht lockerlassen. Seit damals hat niemand mehr Müllers Bekannten gesehen, jetzt ist aber ein Skelett unter einer von Müllers Immobilien entdeckt worden, mutmaßlich der Vermisste. Müller ist verdächtig, etwas mit dessen Ableben zu tun zu haben. Auch, weil er die Bestattung der ebenfalls verstorbenen Mutter des Toten bezahlte und ihr regelmäßig Blumen ans Grab bringen lässt. Würde er das tun für eine Fremde, wenn er sich nicht schuldig fühlen würde und etwas gutmachen wollte?
Antworten auf diese und andere brennende Ermittlerfragen gibt es in der vom Streamingdienst Netflix produzierten Serie „Criminal“. Die zwölf Folgen umfassende Anthologie-Reihe ist etwas Besonderes, weil sie nicht nach den herkömmlichen Gesetzmäßigkeiten bekannter Krimi-Serien-Formate abläuft. Außergewöhnlich ist schon, das vier europäische Länder in die Produktion involviert sind, Teams aus Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Spanien gestalten jeweils drei Folgen. Das Setting ist für alle gleich: In einem Studio in Madrid wurde ein unpersönlich-kalter Verhörraum in Sichtbeton-Optik aufgebaut. Geometrisch angeordnete Wandpaneele aus Holz dienen nicht nur als schicke Designelemente, sondern auch zur Schallisolierung. Ein Einweg-Spiegel, umrahmt von einer mal rot, mal bläulich-weiß strahlenden Neonlichtleiste, verwehrt dem Verdächtigen die Sicht auf vier Beamte, die das Verhör hinter der Glasscheibe verfolgen und auswerten. Ansonsten gibt es noch Ansichten vom Flur, wenn sich Kriminalbeamte und Anwälte vor dem landestypisch bestückten Süßigkeitenautomaten treffen oder miesen Kaffee zapfen. Draußen vor dem Fenster zeichnen sich Hochhaus-Silhouetten einer unbestimmten Großstadt ab.
Peter Kurth spielt den reichen Wessi
Alle Folgen von „Criminal“ sind also als Kammerspiel angelegt, und langweilig wird das nie. Weil das Vorleben weder der Verhörten noch der Beamten eine Rolle spielt, verdichtet sich die Erzählung auf das Wesentliche – keine Chance für Drehbuchautoren, Charaktere und Konflikte langsam zu entwickeln. In nur wenigen Wortwechseln müssen die Fälle umrissen werden, damit das eigentliche Drama des Verhörs beginnen kann.
Der Fall um den reichen Westdeutschen Müller stammt aus der Feder der Drehbuchautoren Bernd Lange und Sebastian Heeg, inszeniert hat ihn Oliver Hirschbiegel. Mit dem unterm Intendanten Armin Petras am Schauspiel Stuttgart engagierten Peter Kurth ist der Hauptcharakter stark besetzt. Die Kripo-Beamten werden unter anderem von Eva Meckbach, Sylvester Groth und Florence Kasumba verkörpert. Der Fall des Herrn Müller ist ungeheuer spannend, obwohl die Figur an sich zunächst wie eine hinlänglich bekannte Karikatur des saturierten Wessis wirkt, der sich einst an den kapitalistisch unerfahrenen Ossis bereicherte. Doch ganz so einfach, wie anfangs vermutet, liegt der Fall eben nicht.
Die Deutschen schwächeln punktuell
So gibt es keine einzige „Criminal“-Folge, die inhaltlich enttäuschen würde. Im direkten Länder-Vergleich fallen allerdings Schwächen hinsichtlich des Spiels und der Dialogsprache auf. Obwohl die deutschen Folgen nicht minder prominent besetzt sind wie die Arbeiten der britischen, französischen und spanischen Kollegen, tun sich besonders Florence Kasumba und Sylvester Groth schwer, ihre Figuren lebendig zu gestalten. Mimik und Gestik wirken steif und überreflektiert, wie auch die papiernen Dialogzeilen, die nur selten den Sound einer natürlichen Alltagssprache entwickeln. Dieses Problem wurde auch in der deutschen Netflix-Produktion „Dark“ offenbar, die ebenfalls mit renommierten Bühnen- und Filmstars wie Michael Mendl, Angela Winkler, Hermann Beyer oder Karoline Eichhorn aufwartet.
Die intelligent konstruierten Erzählungen entschädigen für vieles. Besonders eindrucksvoll ist der Fall einer Frau namens Claudia (Nina Hoss), die vor zwanzig Jahren ihrem Liebhaber half, junge Mädchen zu verschleppen und zu ermorden. Die Beamten wollen der längst Verurteilten den Ablageort des letzten Opfers entlocken, um der im Sterben liegenden Mutter der Toten Ruhe und Gewissheit geben zu können. Die 1975 in Stuttgart geborene Nina Hoss spielt Claudia eindrucksvoll als äußerlich verroht, ordinär, fast animalisch wütend. Nachvollziehbar wird der Hass aber, weil man ihr in der Haft zwanzig Jahre zuvor eine schwere psychische Verletzung zugefügt hat.
Eine kleine Sensation
Hervorragend ist die Auftaktfolge der Briten mit David Tennant („Harry Potter und der Feuerkelch“, „Dr. Who“) als Arzt, der verdächtigt wird, seine 15-jährige Stieftochter missbraucht und ermordet zu haben. Wie „Criminal“ den Prozess der Wahrheitsfindung offenlegt und dabei die psychologischen Bedingungen von Verhörsituationen beschreibt, ist eine kleine Sensation im oft allzu brav-vorhersehbaren Genre des TV-Krimis. Das ist wirklich etwas Neues.
Alle zwölf Folgen der Serie sind ab sofort bei Netflix verfügbar.
Unsere Empfehlung für Sie

Netflix-Dokumentation „Das Hausboot“ Zwei Stars überschätzen sich
Olli Schulz und Fynn Kliemann bauen ein Hausboot um. Eine Netflix-Dokumentation hält die Strapazen fest.

Jugendbuchautor Thomas Thiemeyer Neue Welten unter Hochspannung
Thomas Thiemeyer schreibt Abenteuer für junge Leser, „World Runner“ heißt das aktuelle. Der Stuttgarter Autor, der seine Karriere als Illustrator begann, bietet aber mehr als fantastisch ausgemalte Szenerien.

TV-Serien „It’s a Sin“ und „Ich und die Anderen“ Serien-Highlights der Berlinale
Die Berlinale räumt TV-Serien immer mehr Platz ein: Im Jahr 2021 sind die besten das britische 80er-Jahre-AIDS-Drama „It’s a Sin“ und David Schalkos Science-Fiction-Verwirrspiel „Ich und die Anderen“.

Bunny Wailer gestorben Reggae-Pionier und Parteigründer
Mit Bob Marley hat Bunny Wailer 1963 eine der wichtigsten Reggae-Bands aller Zeiten gegründet. Auf Jamaika war er eine Legende, in der Popwelt weniger bekannt.

Disneys Trickfilm „Raya und der letzte Drache“ Eine Prinzessin und eine Drachin retten die Welt
„Raya und der letzte Drache“, der erste abendfüllende Disney-Trickfilm seit 2016, reist in eine magische Welt asiatischer Fürstentümer, deren gesamte Existenz von einer Drachin abhängt.

60 Jahre Stuttgarter Ballett Fragen an Marco Goecke
Einstige Tänzer des Stuttgarter Balletts sind weltweit als Direktoren begehrt. Wir haben sie nach ihren Stuttgarter Wurzeln gefragt – heute: Marco Goecke, Ballettdirektor am Staatstheater in Hannover.