Ein elektronischer Lotse soll die Leistungsfähigkeit der chronisch verspäteten S-Bahn in Stuttgart erhöhen. Dabei ist die Technik kein Allheilmittel, schränken die Wissenschaftler ein. Andere Schwachpunkte müssten ebenfalls beseitigt werden.

Stuttgart - Im Führerstand der E-Lok schiebt Christopher Kunze den „Gashebel“ langsam nach vorn. Der Zug rollt an – bei Tempo 30 gerät der Bahnsteig langsam aus dem Blickfeld.

 

Doch in Wirklichkeit bewegt sich nichts. Der Führerstand der Lok steht im Vorführ-Center des Bahntechnik-Herstellers Thales in Ditzingen, die Schienenstrecke existiert nur als Video auf dem als „Windschutzscheibe“ der Lok dienenden Bildschirm. „Mit dem Simulator können wir Kunden die Funktion des European Train Control Systems (ETCS) recht gut veranschaulichen“, erläutert Thales-Sprecher Pitt Marx.

Der elektronische Lotse soll die Leistungsfähigkeit der chronisch verspäteten S-Bahn auf der unterirdischen Stammstrecke zwischen Schwabstraße und Hauptbahnhof erhöhen. Die Region Stuttgart verlangt im Schulterschluss mit der Landeshauptstadt, dass die S-Bahn-Stammstrecke diese neue Signaltechnik erhalten soll.

Hier geht es zu unserem Stuttgarter S-Bahn-Check.

Am 19. Oktober steht das Thema ETCS unter dem Stichwort „Betriebssimulation der S-Bahn-Stammstrecke“ im Verkehrsausschuss der Region Stuttgart auf der Tagesordnung. Und Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) kommt sogar persönlich nach Ditzingen, um sich über dieses moderne Zugbeeinflussungssystem zu informieren.

Nadelöhr Stammstrecke

Im Berufsverkehr – wenn alle 2,5 Minuten eine S-Bahn das Nadelöhr unter der Stuttgarter City passiert– stößt das jahrzehntealte Signalsystem an Grenzen. Das führt beim Rückgrat des Nahverkehrs in der Region fast täglich zu Verspätungen. Das Verkehrswissenschaftliche Institut der Universität Stuttgart hat in einer Studie aufgezeigt, dass es möglich ist, mit ETCS bis zu 70 Prozent der Verspätungen in dem S-Bahn-Engpass abzubauen. Statt 24 könnten sogar bis zu 32 Bahnen in der Stunde die Röhre passieren.

ETCS sei aber kein Allheilmittel, schränken die Wissenschaftler ein. Andere Schwachpunkte im regionalen S-Bahn-Netz – etwa veraltete Stellwerke, marode Weichen und brüchige Kabel – müssten ebenfalls beseitigt werden.

Im Simulator-Cockpit passiert die virtuelle E-Lok kurz hinter dem gerade verlassenen Bahnhof ein zwischen den Schienen montiertes gelbes Rechteck. „Eine Balise“, sagt Kunze in bestem Bahntechnikerdeutsch. Das sei ein elektronischer Kilometerstein, übersetzt der Ingenieur. Dieser habe dem Bordrechner gerade mitgeteilt, wo sich der Zug genau befinde. Gleichzeitig seien per Funk von der Leitstelle im Stellwerk neue Daten über den nächsten Streckenabschnitt übermittelt worden. „In dem befindet sich kein anderer Zug, deshalb darf ich Tempo 90 fahren“, so Kunze. Auf dem Tacho klettert die Nadel nach oben und bleibt knapp unter der 100er-Marke stehen. Links und rechts der Schienenstrecke fliegt eine computergenerierte Landschaft vorbei.

Signalmasten sind nicht mehr nötig

Lokführer Kunze ist mit seinem „Zug“ auf einer mit dem modernen ETCS-Level-2-System ausgerüsteten Strecke unterwegs. Auf der Strecke liegen nur noch elektronische Kilometersteine zwischen den Schienen. „Signalmasten sind nicht mehr erforderlich“, erläutert Kunze. Der kontinuierliche Informationsaustausch zwischen Lok und Leitstelle erfolge drahtlos über eine schnelle Funkverbindung. Dabei teile das Stellwerk dem Lokführer mit, ob der nächste Blockabschnitt frei sei und mit welchem Tempo er fahren dürfe. Vom Anfang bis zum Ende eines jeden Blockabschnitts, der mehrere Kilometer oder auch nur 100 Meter lang sein könne, erhielten die Züge stets maßgeschneiderte Daten über die Strecke.

Auf der knapp drei Kilometer langen unterirdischen S-Bahn-Stammstrecke mit vier Haltestellen besteht für Kunze der ETCS-Vorteil in der Möglichkeit, die Blockabstände deutlich zu verkürzen. Wenn eine S-Bahn eine Haltestelle verlasse, könne dann eine etwa nur 100 Meter entfernte Bahn rasch nachrücken. „Das spart Zeit gegenüber konventionellen Signalsystemen und ermöglicht einen dichteren Zugverkehr.“

Kürzere Zugfolge

Diesen Vorteil hat auch der Verband Region Stuttgart (VRS) erkannt. „Um längere Haltezeiten – meist bedingt durch größere Fahrgastwechsel als angenommen – zu kompensieren, ist ein Signalsystem erforderlich, das eine kürzere Zugfolge gegenüber dem heutigen Zustand ermöglicht. ETCS bietet hierzu die technische Möglichkeit“, heißt es in der aktuellen Sitzungsvorlage für den Verkehrsausschuss. Ein neues konventionelles Signalsystem biete hingegen „keine deutliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit“.

Kunze ist mit seinem „Zug“ pünktlich und ohne Zwischenfälle im Endbahnhof angekommen. Um zum nächsten Meeting zu gelangen, bleiben ihm noch fünf Minuten. Die Hausstrecke in den zweiten Stock schafft der Ingenieur locker auch ohne elektronischen Lotsen.