Nach einer gefühlt halben Ewigkeit bringen die Einstürzenden Neubauten wieder einmal ein neues Album heraus. „Alles in Allem“ erscheint an diesem Freitag – und es ist mal wieder ein Meisterwerk.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart/Berlin - Einen einzigen Moment gibt es auf diesem Album, bei dem alles wie ganz früher ist. „Zivilisatorisches Missgeschick“ heißt er, schon der Titel spricht Bände; es ist das vierte der zehn Stücke von „Alles in Allem“, ein eruptiver Ausbruch, bei dem die fünf Berliner Musiker noch einmal an der Grenze zur Dissonanz, zum Lärm, zur unsortierten Antistruktur agieren. So, wie es die Industrialrockpioniere einst in den Frühtagen ihrer nun schon vierzigjährigen Karriere im Bereich der Indiemusik taten.

 

„Zivilisatorisches Missgeschick“ ist eine Intervention, ein Interludium, denn die restlichen Stücke zeichnen sich durch eine wunderbare, wie ein Fluss gemächlich mäandernde Ruhe aus. Wenngleich die Phrase heillos überstrapaziert ist: hier muss man tatsächlich sagen, dass diese Band ein Album wie aus einem Guss vorgelegt hat. Vielleicht auch, weil hier gut Ding Weile gehabt hat. „Offiziell“ ist es das erste neue Album seit „The Jewels“ von 2008, also einer zwölfjährigen Pause. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn vor sechs Jahren legten die Neubauten „Lament“ vor, ihre Auftragskomposition für das belgische Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Und dazwischen erschienen diverse Re-Releases und weitere Veröffentlichungen, die allerdings nur den so genannten Supportern vorbehalten waren: so nennen sich seit gut zwanzig Jahre jene Menschen, die den Einstürzenden Neubauten in einer Art Crowdfunding finanziell ihre künstlerische Arbeit mitermöglichen.

Ebenfalls „offiziell“ ist „Alles in Allem“ als Berlin-Album etikettiert. An Berlin-Konzeptalben herrscht bekanntlich kein Mangel, aber auch deshalb relativiert Blixa Bargeld diese Aussage im Gespräch mit unserer Zeitung (siehe zusätzlicher Artikel auf unserer Webseite) auch: ja, es dreht sich auch namentlich einiges auf diesem Werk um Berlin, exemplarisch wird dies allein ja schon durch Stücktitel wie „Tempelhof“, „Wedding“ oder „Am Landwehrkanal“, aber das sei nicht das Wesensmerkmal des Werks.

Und so ist es auch: kennzeichnend für „Alles in Allem“ sind – wie von den Einstürzenden Neubauten gewohnt – Texte der allerhöchsten Güteklasse: sinnlich, vielschichtig, fein und lyrisch gewebt in einem Maße, das in Deutschland nach wie vor seinesgleichen sucht, vorgetragen von Bargeld in gewohnt prägnantem Duktus. Arrangiert sind die Stücke mit dem gewohnt fremden und doch längst vertrauten Post-Industrialinstrumentarium, auch das macht so niemand sonst. Und komponiert sind sie schließlich mit einer sanften Eindringlichkeit auf einem beeindruckend hohen Niveau, unter Zuhilfenahme von „Dave“ übrigens: das ist ein sechshundert Kärtchen starkes Karteikartensystem mit Begrifflichkeiten, die von den Bandmitgliedern nach Zufallsprinzipien beim Songwriting genutzt werden und ihnen Regieanweisungen wie auch Assoziationsanstöße liefern; auch dies ist ein ganz unikales Rezept, das diese ganz unikale Band in ihrem intellektuellen Anspruch von so vielen anderen abhebt.

In der Summe ergibt sich jedenfalls wieder einmal ein ausgezeichnetes und gewiss überdauerndes Album, mit dem die Einstürzenden Neubauten glänzend untermauern, warum sie viele Musikfreunde für die nach wie vor beste Band Deutschlands halten.