Stuttgarts Karies erweisen sich auf ihrem zweiten Album „Es geht sich aus“ sogar noch beklemmender, verstörender und stoischer als ihre Kollegen Die Nerven. Ja, das geht tatsächlich!

Stuttgart - Klaustrophobisch und beklemmend. Wie eine Kammer, die sich langsam mit Wasser füllt, wie eine Welt, über die eine kolossale Nebelglocke gestülpt wurde. Farben verwischen, verblassen zu grau, Geräusche dringen verzerrt ans Ohr, alles verfällt in eine monotone, nahezu maschinelle Trance. Sex, Drugs und Rock'n'Roll?

 

 

Hier nicht! Dafür allerlei beunruhigend Berauschendes und nicht unbedingt das, was man unter angenehmer Musik versteht. Doch dafür sind Karies nicht zuständig. Das sagt schon der Bandname. Karies sind der pochende Schmerz unter der Haut, die juckende Stelle, die man nicht erreicht, eine Band, die sich noch mehr als Die Nerven darauf versteht, musikalisch einen luftdichten Raum zu erschaffen, eine Druckkammer, durch die Post-Punk, Noise Rock und metallisch-monotones Schaben im Angesicht einer betonfarbenen Unzufriedenheit geistern. „Die Spuren verlieren sich: der Mutterleib, die Brust und die Summe all der Dinge, die anders sind als erwartet“, antwortet Max Nosek auf die Frage, woher jene in der Musik greifbare Unzufriedenheit rührt. „Wo will man anfangen und auch wieder aufhören?“, fragt er weiter. „Also bleibt nichts weiter übrig als das zu wiederholen, was weiter drängt, es wie hier in Musik zu entäußern, damit es ausgedrückt vielleicht klärt, was es damit auf sich hat.“

 

Nerv getroffen

 

Mit diesen Worten im Hinterkopf erklärt sich auch die Monotonie, die Karies auf „Es geht sich aus“ noch mehr zum Stilmittel erhoben haben als schon auf ihrem Debüt „Seid umschlungen, Millionen“. Taktwechsel sind überbewertet, der Bass rumort stoisch und griesgrämig, Refrains und Bridges sollen die anderen schreiben. Auf dem bemerkenswert unangenehmen Album „Es geht sich aus“ dreht sich alles um das Momentum aus dem Nichts heraus, um schwere Rhythmen, wabernde Gitarren und repetitiver, lethargischer, fast emotionsloser Gesang: Eine Stunde schweben, um es mal im Nerven-Jargon zu sagen.

 

Noch minimalistischer, karger und spröder als die klingt man, mehr vorangepeitschtes Regiment denn dynamisch-agile Band. Das ist gewollt, das verfehlt seine Wirkung nicht.

 

„Es geht sich aus“ ist ein Album über Entmenschlichung, erzählt in bleiernen Stücken vom Sturz in die große gleichförmige Leere. Kaum bricht sich der Auftakt „Es ist ein Fest“ blechern Bahn, haben Karies mitten in ihren Malstrom gezogen. Unfreiwillig, wie der Bassist und Sänger betont: „Wir kalkulieren keine Wirkung, sondern spielen zusammen, schauen was sich einpendelt. Da die Grundstimmung an Bisheriges anknüpft, war das auch nicht weiter ein Thema.“

 

Das wird schon!

 

„Glücklich getrennt und frei für immer“ lautet eine Zeile im Opener, ein Liebeslied an das Scheitern, perfektes Futter für all jene, deren Glas eh immer halb leer ist. Ein solches für jeden individuell wählbares Axiom (halb voll/halb leer) bildet die Band auf dem Cover ab.

 

Für Max ist es aber weniger die Frage, ob das Glas leer oder voll ist. „Vielleicht ist es ja auf verschwimmende Weise transparent? Aber dadurch hört es nicht auf, Widerstand zu leisten. Ich denke an das Erstaunen der Fliege vor der Fensterscheibe.“ In Verbindung mit dem Albumtitel „Es geht sich aus“ ergibt das eine interessante Kombination. Wie beim gesamten Album, steht auch hier die Ambivalenz im Mittelpunkt. „Der österreichische Titel hat ursprünglich einen positiven Anklang – das wird schon! Aber im Deutschen hat es den Drall abwärts, steht also zwischen den Stühlen.“

 

Könige des Morbiden

 

Eingefangen und konserviert wird dieses Grundgefühl der Ambivalenz, der schemenhaften Uneindeutigkeit auch von einer psychotisch intensiven, wild flackernden Produktion. Für die zeichnen Max Rieger und Ralv Milberg verantwortlich. „Max Rieger meinte, die Aufnahmen gehören zum Morbidesten, das er bisher mitgemacht hat. Es war schon ein spezieller Mikrokosmos in diesen Tagen. Irgendwann verliert man das Ganze aus den Augen, fragt sich, wohin das führt. Manchmal entsteht daraus etwas Spezielles, manchmal geht es schief.“

 

Was auf dieses Album zutrifft, lässt Max Nosek offen. Wie so vieles. Er ist nicht hier, um Antworten auf alle Fragen zu geben. In Milbergs grenzenloser Gelassenheit fanden Karies einen Anker, der es ihnen erlaubte, sich enthemmt der tristen Soundwand hinzugeben, die auf „Es geht sich aus“ erwartet. Und mit Rieger teilt man eh eine gemeinsame Geschichte.

 

Wie viele andere Bands haben auch Karies einiges mit den Nerven zu tun, auch dieser hoffnungslose Haufen entstammt jenem wundersam ergiebigen Nährboden, dem Die Nerven und Human Abfall entstammen. Personell hat man mit Philipp Knoth den Bruder von Nerven-Julian hinter der Schießbude, dazu eine kleine Anmerkung für Komplettisten: Davor war neben Julian auch schon Kevin Kuhn (ebenfalls ein Drittel der Nerven) für die Drums eingeteilt. Soweit nichts Neues also, inzestuöse Auswüchse wie diese sind hier Gang und Gebe, bereichern auch diesen verstörend vor sich hinflirrenden Fiebertraum eines Rock-Albums.

 

Alles, nur nicht Ostalb

 

Auf ihre Einflüsse angesprochen, war in der Presse zuletzt eine Menge von Sonic Youth und deren Anführer Thurston Moore zu lesen, vom epochalen Abgrund bei Swans, vom Berliner Industrial. Für Nosek nicht weiter relevant: „Für mich waren es die Personen und Bands aus Stuttgart, die um 2012 maßgeblich aktiv waren. Von Berlin und den USA, vor allem von damals, den Achtzigern, wusste ich nichts.“ Auch für Karies sind es somit eher bestimmte Individuen und keine Stadt als Ganzes, die den Klang prägt. „Wenn ich die gleichen Personen in einer anderen Stadt kennengelernt hätte, wäre der Unterschied nicht groß gewesen“, so der Basser, erkennt hierbei vor allem die Leistung der Nerven und Human Abfall als prägend an. „Vielleicht waren die Herangehensweisen dieser beiden Bands als konkrete Stilmittel entscheidend.“

 

Und wenn schon nicht Stuttgart, so zeigt das halluzinogen rauschende „Ostalb“ doch die Wirkung einer ganz gewissen Region auf. Benjamin Schröter murmelt wieder und wieder „Fernsehflimmern“, dazu gibt es reichlich beengende Frustvertonung. „Ich musste beim Jammen unmittelbar an diese Stimmung denken, wenn ich abends mit Vater im Auto über die schwäbische Alb gefahren sind, nachdem wir wandern waren. Manche Ortschaften wirken so verlassen und abseits. Alles, was man sieht, ist das Flimmern hinter den Fensterscheiben. Das warme Auto fühlt sich darum umso geborgener an, weil es einen dort wegbringt.“ Er pausiert. „Nicht auszudenken, dort zu leben.“

 

Karies: „Es geht sich aus“ erscheint am 4.11. bei This Charming Man Records. Die ursprünglich für November anvisierte Tour wurde aus unbekannten Gründen verschoben (Zitat: „Keine weitere Information“) und wird im März 2017 nachgeholt.