Der britische Sänger Morrissey bringt ein bestechendes neues Album heraus – und poliert damit seinen leicht lädierten Ruf wieder auf.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

London - Herrje, manchmal benimmt sich Stephen Patrick Morrissey gelinde gesagt zum Haareraufen. Der überzeugte Vegetarier bezeichnete Anders Behring Breiviks Amoklauf als Geringfügigkeit im Vergleich zu dem Leid, das die Ernährungsindustrie Tieren zufüge. Er bescheinigte den Massenmedien Meinungsmache, weil sie im französischen Präsidentschaftswahlkampf nicht wie er Marine Le Pen als Siegerin des TV-Duells sehen. Er hat sich über den Brexit gefreut und den Rechtspopulisten Nigel Farage gepriesen, der seiner Ansicht nach allerdings leider nur durch einen Wahlbetrug anstelle der Rechtsnationalistin und Pegida-UK-Gründerin Anne-Marie Waters Chef der Ukip-Partei geworden ist. Und nach dem Attentat in seiner Heimatstadt Manchester im März dieses Jahres ging er den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan rüde an, weil der angeblich Großbritanniens Probleme mit dem Islam kleinrede.

 

Und auf seinem neuen Album „Low in High School“? Da wutbürgert er gleich weiter, wenn er gegen die „Propaganda“ der „Mainstreammedien“ zetert oder in der Singleauskopplung „Spent The Day In Bed“ empfiehlt, keine Nachrichten mehr zu schauen, weil diese uns nur „klein halten“ wollen. Und da zuckt man schließlich schon bei einem ersten Blick auf das Booklet zusammen, wenn man dort die beiden Songtitel „The Girl From Tel-Aviv Who Wouldn’t Kneel““ und „Israel“ liest. Droht da sogleich der nächste Ausrutscher?

„Spent The Day in Bed“ ist das schönste und beste Lied des Albums

Nein, keine Angst: Die beiden Songs sind ein Lobpreis des Widerstands und eine Liebeserklärung an das Land im Nahen Osten, dessen führende Politiker sich ja bisweilen selbst so widersprüchlich und befremdlich gebärden wie der exzentrische britische Sänger. Überhaupt könnte man auch bei diesem Morrissey’schen Album eine Menge Textexegese mit der Goldwaage in der Hand betreiben. Man ginge damit aber am Wesentlichen vorbei. Dass Morrissey nämlich gewiss ein politischer Kopf und vielleicht bisweilen auch ein Holzkopf, aber in erster Linie doch ein Popmusiker ist. Und was für einer.

Man höre dazu nur die erwähnte Single „Spent The Day In Bed“, das schönste und beste Lied dieses allerdings rundherum höchst gelungenen Albums. Eine verspielte Elektroorgel, ein fülliger E-Bass, ein Keyboardteppich und ein glasklarer, ruhiger Schlagzeugbeat – das ergibt eine traumhafte Popnummer, die zwar nicht vom Text, aber der edlen Musik geadelt wird. Oder aber den Opener „My Love, I’d Do Anything For You“, ein dramatisches Rockdramolett mit einer schneidenden E-Gitarre und artifiziellem Bläsersatz. Oder die nicht einmal dreiminütige Miniatur „I Wish You Lonely“, die wuchtig-marschierend den großen britischen Synthiepop der achtziger Jahre aufleben lässt. Alles große Klasse, wie überhaupt die gesamten zwölf Tracks, bei denen er sich allenfalls zwei kleine Durchhänger gönnt. Ansonsten reiht sich sein elftes Studioalbum grandios in die Riege der früheren Meisterwerke „You are the Quarry“ und „Ringleader of the Tormentors“ ein.

Morrissey liebt die Koketterie mit dem politisch Unkorrekte

Morrissey hat alle Texte geschrieben, seine Stammbandmitglieder kongenial die hervorragend arrangierte Musik (jeder zeichnet alleine für mehrere Songs verantwortlich, eine alles andere als typische Vorgehensweise), als Produzent fungiert Joe Chiccarelli, der von Frank Zappa über die Strokes bis zu den White Stripes schon oft gezeigt hat, dass er auch sperrig und hart kann, hier aber zartschmelzende, butterweiche Songs vorlegt. Gekrönt wird all das von der Stimme des 58-Jährigen, der noch immer virtuos zwischen Belcanto und großem Bogen changieren kann, mit herrlich tremolierenden Koloraturen ebenso wie rau gewisperten Einwürfen. Und wer genau hinhört, dem schenkt Morrissey auch viel versöhnliche, sehr reflektierte, ebenso gesellschaftskritische wie erhabene Lyrik.

Morrissey liebt die Opposition und die Koketterie mit dem Unkorrekten ebenso wie Pathos und Selbstbespiegelung. Auf die Rolle des Elder Statesman des gepflegten Popcroonertums, die er neben Bryan Ferry gewiss trotzdem wie kein zweiter verkörpert, pfeift er bei allem Hang zu großen Gesten gerne. Auch das macht ihn als Künstler einzigartig – und so wünscht man sich einen stilbildenden Popmusiker letztlich doch.

„Low in High School“ zeichnet schließlich auch eine im besten Sinne gediegene Zeitlosigkeit aus. Dieses Album hätte Morrissey auch vor zehn Jahren herausbringen können, einige der gitarrengeprägten Song hätten mühelos auch auf den Alben seiner früheren Band erscheinen können. Die existiert – wie doch die Zeit verfliegt! – seit nunmehr exakt dreißig Jahren nicht mehr. Und doch wirken die Smiths ebenso zeitlos wie prägend bis heute nach. In dreißig Jahren, jede Wette, wird man das auch von ihrem einstigen Vorsteher Stephen Patrick Morrissey behaupten.