Die Hamburger Band Tocotronic wird auch im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens ihrem hohen Anspruch gerecht. Zur erhofften instrumentalen Form findet ihr neues Album aber erst in seiner zweiten Hälfte, findet StZ-Popkritiker Jan Ulrich Welke.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Einige Menschen rackern dafür ihr Leben lang professionell, bei anderen geht es ganz schnell – und schon gelten sie als intellektuell. Kaum zwanzig Lenze zählten Anfang der neunziger Jahre die Musiker der Band Tocotronic, da galten sie bereits als Mitbegründer der so genannten Hamburger Schule, einer Bewegung, die der zuvor durch Schlagerseligkeit und Neue Deutsche Welle schwer gebeutelten deutschsprachigen Musik lyrischen wie hochintellektuellen Anspruch, eine explizit linkspolitische gesellschaftskritische Einstellung und postmodernes Theoriegut entgegensetzte.

 

Mit ihrem dritten Album, emblematisch „Wir kommen, um uns zu beschweren“ betitelt, gelang der Band um den Sänger und Texter (und im Übrigen gebürtigen Freiburger) Dirk von Lowtzow damals erstmals ein Charterfolg. Auch die folgenden sechs Alben konnten sich dort platzieren, das einstweilen letzte – „Schall & Wahn“ – stieg 2010 sogar direkt auf Platz Eins ein. Das waren mehr als nur Achtungserfolge, Tocotronic demonstrierte, dass es sehr wohl ein großes öffentliches Interesse an deutschsprachiger Musik jenseits von Betroffenheitsliedermacherei, Gefühlsduselei und abgestandenem Mundartrock gab.

Man braucht zunächst etwas Geduld

Verdammt lang her ist das freilich, zumal in der schnelllebigen Popwelt. Nachvollziehbar also, dass die Band anlässlich ihres zwanzigjährigen Bestehens auf ihrem morgen erscheinenden zehnten Album „Wie wir leben wollen“ erst einmal Bilanz zieht. „Jetzt bin ich alt / bald bin ich kalt“, singt Lowtzow gleich in den ersten Versen des Auftaktstücks „Im Keller“. Das ist von ihm und den anderen drei Anfangsvierzigern in dieser Band natürlich kokett gemeint, als Aussage gar etwas lapidar. Aber Schwamm drüber.

Schade indes ist, dass ausgerechnet das schwächste Lied dieses Albums an dessen erste Stelle gesetzt wurde. Als Hörer braucht man jedoch auch fortan noch etwas Geduld mit diesem auf einer uralten analogen Bandmaschine eingespielten und dadurch sehr erdig klingenden Werk. Stilistisch bleibt Tocotronic dem gutmütig-klassischen Gitarrenindierockduktus fast schon penetrant treu, einzige Ausnahme ist das leicht countryesk angehauchte Stück „Chloroform“, das allerdings auch nicht überzeugen kann. Musikalische Varianz ist gewiss nicht die Stärke dieses mit 17 Songs prall gefüllten, siebzig Minuten langen Longplayers.

Die zweite Hälfte ist stark

Zur erhofften instrumentalen Form findet dieses Album erst in seiner zweiten Hälfte. Der Wendepunkt ist Track Nummer elf: „Die Revolte ist in mir“ kommt nun herrlich bollernd, treibend, mit schrammelnden Gitarren daher. Kurz darauf folgt das vorzügliche „Eine Theorie“ mit seiner – dazu gleich mehr – schelmenhaften Lyrik, das eindringlich wütende Stück „Höllenfahrt am Nachmittag“ („Vor dem Fenster steht ’ne Uhr / zählt die dunklen Stunden nur“, deklamiert Lowtzow darin), kurz vor Schluss das fuzzgitarrengetränkte titelgebende Stück „Wie wir leben wollen“, lakonische Verzweiflung atmend; der vorletzte Beleg, dass dieses Album in seiner zweiten Hälfte dann doch stark ist. Sehr sogar.

Wie sie leben wollen, zeigen schließlich die nach wie vor herausragenden Texte von Tocotronic. „Jeden Tag muss ich aufs neue Ziegelsteine schmelzen / jeden Tag muss ich aufs neue Litaneien wälzen / Jeden Tag muss ich aufs neue Grundsätze verpachten / bitte füll’ mich auf, ich habe keine Eigenschaften“, heißt es in „Eine Theorie“, wunderbar den Gedanken persiflierend, diese Band müsste hin- und hergerissen einem vermeintlich intellektuellen Anspruch hinterher hecheln. Das muss sie natürlich nicht, ihre Texte überzeugen unerhört.

Gegengift zum epigonalen Mainstream

Fabelhaft plastisch wirkt, wenn sie kurz darauf in Worte drechseln, wie es derzeit wirklich um die junge deutsche Popmusik bestellt ist. „Die Welt sei ein Spektakel sagt man und ich sag’ na und / vielleicht hat dieses Regiment der Bilder seinen Grund / vielleicht ist das Aktive, Intensive zu verachten / und man muss die Dinge stumm aus der Distanz heraus betrachten / Jeden Tag muss ich aufs neue Ehrgeize zerschneiden / und unglaublich bedeutsame Beschreibungen vermeiden / Ein Antidot für Anekdoten könnte ich zusätzlich verkraften / bitte füll mich damit auf ich habe keine Eigenschaften“, heißt es dort – und wenn man als Adressat dieser Zeilen erfolgreiche junge deutsche Bands wie die Beatsteaks, Silbermond, Madsen oder Kraftclub betrachtet, möchte man sagen: touché! Tocotronic ist das Gegengift zum nichtssagend Epigonalen, zur friedlich-freudig Eierkuchen backenden Inhaltsleere, zum nie versiegenden Frohsinnsquell des Formatradios, zur ostentativen Oberflächlichkeit des kantenlosen Mainstreams, wo mit alledem offenkundig zementiert werden soll, dass es sich doch „bloß“ um Unterhaltungsmusik handeln möge, die keineswegs etwa auch ernste Musik sein will.

Was bleibt auf der Gegenseite in der Retrospektive vom Marsch von der Frankfurter Schule über die Hamburger Schule zur Berliner Republik? Die Band Blumfeld, neben Tocotronic der zweite bedeutende Protagonist des einst frischen hanseatischen Windes, hat sich leider aufgelöst. Einige aus dem Dunstkreis der längst als zeitgeschichtliche Episode abgelegten Hamburger Schule haben sich sehr erfolgreich andere Betätigungsfelder erschlossen: Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen hat sich in der deutschen Hochkultur erfolgreich als Theaterregisseur etabliert, Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“) avancierte zum Bestsellerautor, Rocko Schamoni („Dorfpunks“) reüssierte überdies auch noch als Schauspieler. Und in der Berliner Diskursmusikrepublik? Da hat sich FM Einheit bei den nach wie vor stilprägenden Einstürzenden Neubauten ausgeklinkt und bereichert nunmehr auch am Stuttgarter Schauspielhaus die Bühnenlandschaft. Sven Regener von Element of Crime indes hat mit den drei Erfolgsromanen rund um seine Figur Frank Lehmann funkensprühend sein immenses Talent untermauert.

Das mit dem Marsch durch die Institutionen klappt, wenn der Geist willig ist, künstlerisch also auch jenseits des Diskursrocks. Wie beruhigend. So wie es umgekehrt auch außerordentlich wohl tut, dass es noch deutsche Popmusiker gibt, die es unverdrossen mit dem Kunstbegriff wirklich ernst meinen. Allein dafür darf Tocotronic herzlich gedankt werden.