Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel lässt in seinem neuen Buch „Mehr Mut“ kein gutes Haar an der Entwicklung der SPD in den letzten Jahren. Insbesondere mit Olaf Scholz und Andrea Nahles rechnet er ab.

Berlin - Die Wunden sind tief, daran lässt Sigmar Gabriel keinen Zweifel. Der 60-Jährige erinnert sich mit Bitterkeit an die Zeit nach seinem Rücktritt als SPD-Vorsitzender. Das Ausmaß der Demütigungsversuche seiner früheren „Mitstreiter“ habe er sich nicht vorstellen können. Regierungsmitglieder, die er gefördert und ins Amt berufen habe, hätten ihn nicht mehr gegrüßt.

 

An seinem letzten Tag als Bundestagsabgeordneter Ende Oktober vergangenen Jahres habe ihn nur Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) zum Gespräch eingeladen. „Von meiner eigenen Partei oder Fraktion habe ich nur ein Formular zugesandt bekommen, in dem ich gebeten wurde, meine Nachsendeadresse anzugeben. Das war’s.“

Mehr Mut? Mehr Wut!

Die Zeilen stammen aus Gabriels neuem Buch „Mehr Mut“, das an diesem Montag erscheint. Auf den ersten der insgesamt 336 Seiten beschreibt der frühere Vizekanzler, Umwelt-, Wirtschaft- und Außenminister, wie sich die Welt durch die zunehmende Konkurrenz zwischen den USA und China, durch die Digitalisierung, Klimawandel und Populismus verändert. Deutschland und Europa müssten Akteure bleiben anstatt zum Spielball zu werden, rät Gabriel, bevor er sich mit seiner eigenen Partei befasst. Dem Kapitel über die SPD hätte er auch die Überschrift „Mehr Wut“ geben können.

Der Niedersachse wurde 2009 SPD-Vorsitzender, vor der Bundestagswahl 2017 gab er das Amt ab. Dass er danach von der neuen Parteiführung auch als Außenminister nicht mehr gewollt war, kränkte Gabriel tief. Er revanchierte sich mit regelmäßiger öffentlicher Kritik an der Parteispitze, die immer genervter reagierte.

„Lust an der Selbstzerfleischung“

Gabriel beschreibt in seinem Buch diese Entfremdung aus seiner Sicht. Auch wenn er sie nicht immer beim Namen nennt, rechnet Gabriel vor allem mit seiner früheren Generalsekretärin und Nachfolgerin auf dem Parteivorsitz, Andrea Nahles, und Ex-Parteivize Olaf Scholz ab, in denen er Hauptverantwortliche für den „dramatischen Niedergang der SPD“ sieht.

Beide hätten ihm das Leben als SPD-Vorsitzender schwer gemacht, Aus- und Abgrenzung zählten zu ihren Überlebensstrategien. Gabriel wirft seinen parteiinternen Widersachern „Organisationsstalinismus“ vor, beklagt die „Lust an der Selbstzerfleischung“ in der SPD.

Neues Führungsduo: „Thematisch-strategische Verzwergung“

Gabriel selbst lässt kein gutes Haar an der Entwicklung der SPD seit 2017. Er attestiert der Parteispitze nach seinem Abgang kollektives Führungsversagen, das zu der aberwitzigen Idee geführt habe, das aktuelle Führungsduo per Mitgliederbefragung zu bestimmen. Die daraus hervorgegangene Doppelspitze aus Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stehe für Strategielosigkeit und eine „thematisch-strategische Verzwergung“ auf Sozialpolitik.

Umgang mit Flüchtlingen als Wendepunkt

Zwar habe auch er nicht alles richtig gemacht, räumt der mit robustem Selbstbewusstsein ausgestattete Gabriel ein. Sein Umgangston sei oft rau und unfreundlich gewesen, sein Führungsstil „nicht selten von Ungeduld, überraschenden und raschen Wendungen geprägt“. Für seinen möglicherweise größten Fehler hält es der frühere Parteichef, dass auch unter ihm die notwendige Auseinandersetzung mit den Gründen der Wahlniederlagen ausgeblieben sei.

Als einen Wendepunkt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die SPD, sieht Gabriel den Umgang mit der Flüchtlingskrise 2015. Zwar hält er die Aufnahme der Geflüchteten in Deutschland für richtig, aber viele Vertreter der Parteispitze hätten damals nicht verstanden, warum viele Wähler und auch Mitglieder der SPD dies mit Sorge gesehen hätten. Als Vorbild empfiehlt Gabriel seiner Partei die zuletzt erfolgreichen dänischen Sozialdemokraten, die die Handlungsfähigkeit des Staates wieder stärken wollten: gegenüber der illegalen Migration, aber auch gegenüber einem globalisierten Kapitalismus.