Adrienne Braun widmet sich in ihrem neuen Werk den Eigenheiten der Stadt und bringt dabei so manche Neurose ans Licht.

Lokales: Matthias Ring (mri)

Stuttgart - Die ganze Wahrheit über Stuttgart“ – Leserinnen und Leser dieser Zeitung können sie in Teilen tagtäglich erfahren. Und sie kennen die Autorin, die sie in einem „Kulturführer der besonderen Art“ kompakt ans Licht bringt: Adrienne Braun, Kulturredakteurin unserer Zeitung und Kolumnistin in unserer „Wochenende“-Beilage. Die ganze Wahrheit steckt im Untertitel ihres dritten Stuttgart-Buchs mit dem schönen Namen: „Wer hoißt hier denn noch Häberle?“ (Silberburg-Verlag, 16,99 Euro).

 

Ganz ohne Spätzle und Kehrwoche geht es nicht

Nach der Beschreibung von stillen Ecken und Lieblingsorten ist Braun nun etwas grundsätzlicher ans Werk gegangen. „Es hat sich in den vergangenen zehn Jahren so enorm viel verändert in der Stadt, dass es Zeit für ein Update war“, sagt sie. Ihr Buch will sie nicht nur als Lektüre für Neu-Stuttgarter verstanden wissen, denn vielleicht tut es ja auch manchen Ureinwohnern ganz gut, die „immer wieder mit Stereotypen und Klischees konfrontiert sind“.

Ganz ohne Spätzle und Kehrwoche kommt Braun zwar nicht aus, aber solche Spuren der Schwaben-DNA dienen ihr nur dazu, die Dinge weiterzuführen bis hin zu Cleanup Network, Vegan Street Day und Urban Gardening. Generell sei sie mehr auf der Suche nach dem Atmosphärischen, das eine Stadt ausmache, die Geräusche und Gerüche, die Sprache und Rituale, alte wie neue, zwischen Festeritis und Demonstrantentum, so im Kapitel „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ und „Statt eines Vorworts: Vom Bruddler zum Wutbürger“. Aber obwohl Stuttgart sich so sehr gewandelt hat und manchmal fast ein bisschen stolz auf sich sein kann, muss die Stadt bei Braun zwischendurch mal „auf der Couch“ liegen, und dies nicht im Sinne von Sofa.

Zwei Dinge haben die Autorin überrascht

„Eine Ich-Schwäche führt dazu, dass sich der Betroffene geschmeidig, gar anbiedernd den Anforderungen der Realität anpasst (…), getrieben von der Hoffnung, man würde nun endlich gemocht und für wert befunden“, so die schriftliche Diagnose. Doch keine Sorge: Auch Metropolen wie Berlin und München pflegen ihre Komplexe, weiß Braun. „Die ganze Wahrheit“ hat sie ein Jahr lang klassisch journalistisch aufgearbeitet. Als ursprünglich Reigschmeckte ist sie längst selbst Teil der Stadt, kennt Küche und Kultur ebenso wie Bauwut und Verkehrschaos.

Was hat sie dennoch bei ihrer Recherche überrascht? Vor allem zwei Dinge, sagt Braun: „das Paralleluniversum der Tiere“, dem sie im Kapitel „Revierkampf mit dem lieben Vieh“ nicht nur mit Ratten, Papageien und Juchtenkäfern seinen Raum gibt. Und: „Wie unglaublich überwacht wir hier sind“, beleuchtet in „Vorsicht, Kamera!“.

Auch die dunklen Ecken werden nicht ausgespart

Auch die dunklen Ecken der Stadt spart Braun nicht aus, im Wesentlichen aber ist die Wahrheit über Stuttgart gewohnt heiter und wortverspielt wie in ihren Kolumnen. Kostprobe, wie viel Dialekt in einer „dialektfreien Zone“ dann doch in einem Satz unterzukriegen ist: „Stuttgart ist eine internationale Stadt, in der schon lang keine Rossbolla mehr auf der Straße liegen, weder Grombiera noch Breschtling wachsen und am Doorschtich oder Samschtich auch kein Mensch mehr den alten Kittel zu Lumpen verreißt und mit dem Kuttereimer bewaffnet die Stiege so jesusmäßig scheuert, dass der Nachbar, der mit seinen Schlabba jedes Mal Däbber aufm frisch geputzten Boden hinterlässt, nahagelt und nimmer quaddla kann.“