Mit der Kapitulation Japans am 15. August 1945 beginnt David Peace einen Roman, in dessen Verlauf der Verstand seines Helden kapitulieren wird. In einem verwüsteten Land wird die Jagd auf einen Serienmörder auch zur Konfrontation mit den Verbrechen der Verfolger.

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Stuttgart - „Wer war denn das da im Radio?“ Ein junger Japaner im Tokio des August 1945 fragt sich, wer da eben seine Stimme an die Nation gerichtet hat, und vor allem, was er gesagt hat. Denn der Tenno und sein Hofstaat sprechen eine Sprache, die ein normalsterblicher Japaner nicht versteht. Wozu auch? Der Kaiser spricht nicht mit Menschen, die außerhalb seines abgeschirmten Palastes leben. Als direkter Nachkomme des ersten Kaisers Jimmu, der wiederum von Ninigi, dem Enkel der Sonnengöttin Amaterasu abstammt, ist Hirohito nach dem Verständnis der Shinto-Religion selbst ein Gott – oder zumindest teilweise göttlich.

 

Unerhört ist deshalb, dass der Tenno sich am 15. August 1945 erstmals in der Geschichte an die Bevölkerung wendet: „Die Stimme eines Gottes im Radio!“ Und was er zu sagen hat, ist von historisch größter Bedeutung: Japan kapituliert, zum ersten Mal seit Menschengedenken werden die heiligen Inseln von Fremden okupiert werden.

Das Chaos nach der Bombe

„Tokio im Jahr Null“ – für den preisgekrönten Auftakt seiner Tokio-Trilogie hat David Peace eine Kulisse gewählt, die exotischer kaum sein könnte. Nicht nur, dass er den westlichen Leser mit einer völlig fremden Kultur konfrontiert, er beschreibt sie zudem noch in einem ihrer extremsten Momente.

Die Handlung des Krimis, aus der Ich-Perspektive des Polizei-Inspektors Minami erzählt, setzt wenige Tage nach den Abwürfen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ein. Japan ist schwer vom Krieg gezeichnet, Tokio von Bombenagriffen zum großen Teil verwüstet. Nichts funktioniert mehr, es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser, kaum Lebensmittel, dafür die unerträgliche Hitze des japanischen Sommers, Moskitos und wegen der desolaten hygienischen Zustände Läuse und anderes Ungeziefer. Dazu herrscht die permanente Angst, das Ziel der nächsten Atombombe zu werden.

Ein Meister im Vermischen von Realität und Fiktion

David Peace ist ein Meister in der Vermischung realer Welten mit fiktiven Elementen. Sein Roman „GB84“ etwa führt den Leser in den großen Streik der englischen Bergarbeiter im Jahr 1984 zurück. Mit derselben furiosen Erzählweise, die zum Teil in ein Stakkato von Sätzen oder Satzteilen verfällt, zieht er den Leser in Welten, die von den Protagonisten eher als bedrohlich denn als vertraut erlebt werden.

So schleppt Minami Erinnerungen mit sich herum, die er sich auf keinen Fall bewusst ins Gedächtnis zurückholen will. Wie viele andere im japanischen Polizeiapparat jener Zeit hat auch er zuvor während des Krieges Verbrechen begangen, die er lieber vertuschen will. „Keiner ist der, der er zu sein vorgibt“, lautet einer der Sätze, die er wie ein Mantra wiederholt. Viele höhere Chargen der Polizei haben kurzerhand die Namen Verstorbener angenommen, um von den Siegermächten nicht wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Was paradoxerweise bestens funktioniert, da die amerikanischen Besatzer zwar alles umkrempeln, aber nicht auf Einzelne achten.

Schmiergeld von der Mafia

Geradezu absurd wirkt auf den Leser die Arbeitsweise der Tokioter Polizei, die ein Jahr nach der Kapitulation einen Serienmörder überführen soll. Mit viel Geschrei, dem Hissen von Flaggen, vielen Verbeugungen und den laut vorgetragenen Bekundungen, das beste zu geben, machen sich die Ermittler ans Werk.

Minami hat als einziger ein handfestes Motiv, den Mörder zu fangen: Wenn er Erfolg hat, wird er zur Abteilung für Schwarzmarkt versetzt, wo er für einen lokalen Mafia-Boss von größerem Nutzen sein kann. Für den soll er herausbringen, wer hinter der Ermordung seines Vorgängers steckt. Dafür winkt ihm Schmiergeld, bei Versagen droht der sadistische Gangster, ihn verschwinden zu lassen. Dazu kommen die quälenden Erinnerungen an China, die Minami dazu bringen, eine Schlaftablette nach der anderen zu schlucken.

Keiner ist der, der er zu sein vorgibt

David Peace beschreibt ein Land im Umbruch. Und einen Menschen, der mit dem, was der Krieg aus ihm gemacht hat, nicht fertig wird. Die Kriegsverbrechen, die von japanischen Truppen in China und anderen ostasiatischen Ländern begangen worden waren, treten nicht nur durch Minamis traumatische Erinnerungen auf. Denn der Frauenmörder Kodaira Yoshio, der tatsächlich in jenen Jahren in China und Japan mordete, war an Greueltaten beteiligt, die japanische Soldaten in besetzten Gebieten begingen.

Jäger und Gejagter haben eines gemeinsam: die Zeit im Krieg hat sie zu Mördern an wehrlosen Menschen gemacht. Nur dass der eine Gefallen daran gefunden hat und zu Hause nicht damit aufhören will. Das erst macht ihn vor der Gesellschaft zum Monster. „Die drücken uns da drüben einen Orden an die Brust für all das, was wir getan haben, und dann kommen wir zurück und kriegen zum Dank einen langen Strick“, sagt Kodairo zu Minami, den er verhöhnt und wie einen Komplizen behandelt, als er ihm zu verstehen gibt, dass er von dessen Verbrechen weiß und vor allem dessen richtigen Namen kennt. Keiner ist der, der er zu sein vorgibt:

„Er hieß aber nicht Minami. . .“

„Seien Sie still! Seien sie still!

„Ich glaube, er hieß Katayama. . .“

„Ich weiß, wer ich bin“, brülle ich.

Dieser Autor polarisiert

Das Zusammentreffen mit dem Mörder wird für Minami verhängnisvoll, das fragile Gerüst in seinem Kopf bricht schließlich komplett zusammen. David Peace polarisiert. Die einen halten seine Arbeiten für Geniestreiche, die anderen lehnen seinen Schreibstil ab. Der ist exzentrisch, an das Stakkato mit ständigen Wiederholungen muss man sich gewöhnen. Dann aber wird man in diese bizarren Welten hineingesogen.

Peace schafft damit Realität, schließlich ist man bei Inspektor Minami im Kopf eines Menschen, der haarscharf am Wahnsinn entlang schrammt und uns die Dinge so zeigt, wie er sie erlebt: seinen Ekel vor der zerstörten Welt, vor dem Verhalten der Menschen um ihn herum, die genauso weiter schuften und buckeln, als ob es keinen Krieg, keinen Zusammenbruch gegeben hätte.

Mit Gift eine Bank überfallen

„Tokio im Jahr Null“ ist 2010 in deutscher Übersetzung erschienen, David Peace ist dafür mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Der zweite Band der Tokio-Trilogie ist im selben Jahr erschienen: „Tokio – besetzte Stadt“. Aufhänger ist wiederum ein wahrer Kriminalfall, der bis heute die japanische Justiz beschäftigt. Ein bizarrer Banküberfall im Jahr 1948 in Tokio, bei dem der Täter behauptet, ein Amtsarzt zu sein und die Angestellten dazu bringt, ein angebliches Mittel gegen die Ruhr zu trinken.

Während die Bankangestellten ohnmächtig werden, stiehlt der Täter einen Teil des Geldes der Bank und verschwindet. Zwölf der 16 Angestellten sterben und eine landesweite Jagd auf den Täter beginnt. Ob jener Mann, der 1950 wegen Raubes und Mordes zum Tod verurteilt wurde, tatsächlich der Täter war, ist bis heute umstritten. Er wurde im Mai 1987 im Alter von 95 Jahren hingerichtet.

David Peace: „Tokio im Jahr Null“. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2010. 416 Seiten, gebundene Ausgabe 22 Euro. Auch als Taschenbuch bei Heyne, 9,99 Euro.