Die jüdische Gemeinde in Stuttgart mit ihren rund 3000 Mitgliedern will weiterhin wachsen und gedeihen – Antisemitismus und Corona zum Trotz.

Stuttgart - So viele Anlässe zum Feiern und doch keine ungetrübte Freude: „Es ist ein trauriges Bild, in eine fast leere Synagoge blicken zu müssen“, spricht Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, aus, was die wenigen anwesenden Gäste des Neujahrsempfanges der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) auch empfinden. Denn zum ersten Mal kann die jüdische Gemeinde in Stuttgart das Neujahrsfest nicht in großer Runde feiern. Stattdessen hat wegen Corona eine Live-Übertragung das Ereignis erlebbar gemacht.

 

Nicht nur der Beginn des Jahres 5781, sondern auch zwei Jubiläen geben Anlass zu Freude und Gedenken: Vor 75 Jahren wurde Deutschland vom Naziregime befreit und die jüdische Gemeinde in Stuttgart wieder gegründet. Barbara Traub vom Vorstand der IRGW würdigte den US-Militärrabbiner Herbert E. Eskin, der 20 jüdische Frauen aus einem Arbeitslager bei Heilbronn befreite, überlebende Stuttgarter Juden aus dem KZ Theresienstadt heimholte und das Haus Reinsburgstraße 26 beschlagnahmte, um hier am 2. Juni 1945 mit 150 Überlebenden der Schoah den ersten jüdischen Gottesdienst in Württemberg zu feiern. Von einst 1480 Stuttgarter Juden waren 24 zurückgekehrt. Barbara Traub verschwieg aber auch nicht, welche bitteren Erfahrungen Überlebende der Schoah im Nachkriegsdeutschland machen mussten, und erzählte von Szmuel Dancyger, der 1946 bei einer Razzia im Displaced-Persons-Lager von einem Polizisten erschossen wurde. Der Stuttgarter Polizeipräsident habe in seinen Berichten an OB Arnulf Klett und an die Militärregierung die Überlebenden als „durchweg minderwertige ausländische Elemente“ bezeichnet.

Ein Polizeirabbiner soll benannt werden

„Was für ein Unterschied zu heute, wo wir ein vertrauensvolles Verhältnis zum Land und zur Landeshauptstadt Stuttgart haben und jegliche Unterstützung finden“, stellte Barbara Traub fest. So solle demnächst ein Polizeirabbiner benannt werden.

Zur Gegenwart gehört aber auch der Anschlag auf die Synagoge von Halle am Versöhnungstag Yom Kippur des zurückliegenden Jahres. „Der Kampf um die Werte der Demokratie ist unser Auftrag“, mahnte Abraham Lehrer, denn während der Täter von Halle jetzt vor Gericht stehe, nutzten Rechtsextremisten Demonstrationen zu antisemitischen Verschwörungstheorien.

„Die Sicherheit jüdischen Lebens darf nie infrage gestellt werden“, betonte Staatssekretärin Petra Olschowski: „Wir müssen uns dem Kampf gegen Antisemitismus stellen, und wir müssen ihn gewinnen.“ Ein Bekenntnis, das auch für Bürgermeisterin Isabel Fezer gilt: „Die Synagoge ist ein Mahnmal gegen Rassismus und hat einen festen Platz in unserer Gesellschaft.“ „Das Jahr 5781 wird uns vor neue Herausforderungen stellen“, wagte Traub einen Ausblick, die Pandemie zwinge zu einem „Fahren auf Sicht“. Aber die Gemeinde mit fast 3000 Mitgliedern werde weiter blühen und gedeihen. Wer hätte daran vor 75 Jahren geglaubt?