Nick Cave legt mit seiner Band Bad Seeds das düsterste Album seiner Karriere vor. „Skeleton Tree“ ist ein Requiem auf seinen gestorbenen Sohn.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart -

 
„Nun will die Sonn’ so hell aufgehn/Als sei kein Unglück die Nacht geschehn/Das Unglück geschah nur mir allein/Die Sonne, sie scheinet allgemein.“
(Gustav Mahler – Erstes Kindertotenlied)

Wie kann das Leben weitergehen, wenn das eigene Kind stirbt? Und wie geht man damit um, wenn dieser Schicksalsschlag von der Öffentlichkeit mitverfolgt wird, weil man ein weltberühmter Musiker ist – noch dazu einer, der sich stets extrem bedeckt gehalten hat, was sein Privatleben angeht? Kann man das Trauma kreativ verarbeiten, ohne dass es anmaßend oder mitleidheischend wirkt? Man kann. Friedrich Rückert hat es in seinen Kindertotengedichten versucht, die er nach dem Tod zweier seiner Kinder verfasste. Sie fesselten Gustav Mahler derart, dass er sie zu einem Liederzyklus vertonte, den Kindertotenliedern, die im Gegensatz zur Rückert’schen Vorlage mit der Erkenntnis enden, dass der Tod zwar mächtig, die Liebe aber noch mächtiger ist.

Ähnlich formuliert es Nick Cave gegen Ende des Dokumentarfilms „One More Time With Feeling“, der den Zuschauer Zeuge einer klangvollen Traumatherapiesitzung werden lässt. Buchstäblich schlicht und ergreifend setzt der Regisseur Andrew Dominik dies in Schwarzweißbildern in Szene; Aufnahmen am Küchentisch montiert er mit Gesprächspassagen in einem fahrenden Auto, Dialogen Caves mit seiner Frau Susie Bick, Probenpassagen aus dem Aufnahmestudio und den Einspielungen der Songs des neuen Albums. Nur wenige Worte fallen in diesem so behutsamen wie eindringlichen Film, doch sie wiegen schwer und zeigen, wie sehr der Tod seines Sohnes Cave gebeutelt hat und wie schwer den australischen Musiker dieser Schicksalsschlag noch immer mitnimmt.

Der Film „On More Time With Feeling“ dokumentiert die Entstehung des Albums

Dieser Film hat das Rätselraten beendet, das im Vorfeld um ihn entfacht wurde. Zu sehen war er nach seiner Weltpremiere in der vergangenen Woche beim Filmfest in Venedig – wo er außerhalb der Wettbewerbskonkurrenz gezeigt wurde – nur ein einziges Mal: am Donnerstagabend in achthundert ausgewählten Kinos rund um den Globus. Er ist gewissermaßen der Schlüssel zum Schloss, der Türöffner zur Gedankenwelt des Nick Cave. Ihm war es ein dringendes Bedürfnis, das Werden dieses Albums sowie seine dazugehörigen Gedanken filmisch dokumentieren zu lassen, um zunächst einen Film für einen Musiker sprechen zu lassen – und zwar genau am Vorabend des dann am Freitag erschienenen Albums „Skeleton Tree“.

Gänzlich beendet ist die Rätselei um diesen Film jedoch noch nicht. Die Logik der Abfolge erscheint aus Nick Caves künstlerischer Sicht absolut zwingend, zumal sie – bei aller sie umwehenden Tragik – in ihrer Umkehrung des von Spielfilm-DVDs bekannten Prinzips von Werkpräsentation und anschließender „Making of“-Bonusdokumentation ein rezeptionsästhetischer Glücksfall für die Popmusikhistorie ist. Das Interesse an diesem künstlerischen Experiment spricht auch für sich: Der große Saal des Stuttgarter Cinemaxx-Kinos war am Donnerstagabend bestens gefüllt. Grob gesprochen könnte man also sagen, dass Nick Cave seinem interessierten Publikum eine faire Chance gegeben hat. Umgekehrt wäre es im wahrsten Sinne des Wortes vergebene Liebesmüh’ und unendlich schade, wenn dieser so beeindruckende, das Album so vorzüglich ergänzende Film nach seiner einmaligen Vorführung im Archiv verschwände. Die sich aufdrängende Lösung, den Film als DVD dem Album beizugeben, haben Künstler und Plattenfirma nämlich nicht gewählt. Einstweilen jedenfalls, denn da ist das letzte Wort hoffentlich noch nicht gesprochen.

„Let us go now, my darling companion/Set out for the distant skies/ See the sun, see it rising/ Rising in your eyes.“
Nick Cave & The Bad Seeds – „Distant Sky“

Nick Cave als düsterer Moritatensänger

Die Nachricht vom Unfalltod platzte mitten in die Aufnahmen von „Skeleton Tree“ herein, dem 16. Album der Bad Seeds. Die Band habe, heißt es, daraufhin vieles an den bereits eingespielten und noch aufzunehmenden Songs überarbeitet. Wie das Album unter anderen Umständen geklungen hätte, ist daher Spekulation; ob es angesichts der Entstehung in eine wertende Relation zum gesamten Cave’schen Werk gesetzt werden darf oder sich dies verbietet und ob der Höreindruck ohne den Film womöglich ein ganz anderer wäre, ist eine ebenso interessante wie diesen Rahmen leider sprengende Frage. Auffällig jedenfalls ist die kammermusikalische Instrumentierung, die sich auch im Klang ausdrückt. Auf E-Gitarren wird komplett verzichtet (bemerkenswert, denn die Trauer hätte sich auch in Birthday-Party-artigen wütenden Rockriffs entladen können), Bass und Schlagzeug liefern ein kaum vernehmbares Fundament, das Gros zu dieser pechschwarzen Elegie steuern Caves kongenialer Partner, der Multiinstrumentalist Warren Ellis zumeist an Streichinstrumenten und elektrischen Tasteninstrumenten, und Cave selbst am Piano bei.

Was die Texte betrifft, war der düstere Moritatensänger Cave auch zuvor nicht gerade als Stimmungskanone bekannt. Auf „Skeleton Tree“ liefert er jedoch eine sinistere Zerrissenheit ab, die selbst in seinem Œuvre seinesgleichen sucht. Im Eröffnungsstück „Jesus Alone“, geschrieben lange vor dem Tod seines Sohnes, deklamiert er fast schon prophetisch über einem wabernden Sound dräuendes Unglück, Klagegesang reiht sich fortan an Verweiflungsflehen, in Stücken wie „I Need You“ wird deutlich, was Cave im Film mit einer wunderbaren Metapher umriss: Der Versuch, Abstand zu gewinnen, gestalte sich wie an ein Gummiband geheftet; je weiter man sich zu entfernen versuche, desto heftiger gerate der Rückschlag. Einer Katharsis gleich nähern sich Cave und die Bad Seeds schließlich in „Distant Sky“, dem siebten von acht Stücken, mit der dänischen Sopranistin Else Torp als Gastvokalistin dem Erlösungsgedanken, der Suche nach Vergebung oder zumindest der Erkenntnis, die Nick Cave für sich selbst doch so sehr besiegeln möchte: dass die Liebe stärker als der Tod sein möge.

„I’m walking through deep water/Nearer to the sea/I’m asking the deep water/Don’t take my love from me.“
Marianne Faithfull - „Deep Water“

Die See war unerbittlich an jenem 14. Juli des vergangenen Jahres, ihr Locken zu verführerisch für den 15-jährigen Arthur Cave, der an jenem unheilvollen Tag rauschumnebelt bei seinem allerersten Experiment mit LSD überhaupt die Kalksteinklippen am Ovingdean Gap hinabstürzte und sechzig Fuß tiefer nur noch leblos an der Uferpromenade geborgen werden konnte. Fünf Meilen entfernt vom Haus der Familie im südbritischen Seebad Brighton, wo Nick Cave endlich heimisch geworden ist und mit seiner Frau ihre Zwillingssöhne aufwachsen sehen wollte. Am Ende des Films wird eine irgendwann entstandene Aufnahme eingespielt, auf der Earl und Arthur Cave das Lied von Marianne Faithfull eher krähen denn singen, einem Epilog gleich. „I called out right across the Sea/ That nothing is for free“ singt der große Schmerzensmann Nick Cave in seinem Epilog, dem hymnischen, dem Album seinen Namen gebenden Abschlusslied „Skeleton Tree“. Ein letztes Blatt weht vom skelettierten Baum der Erkenntnis, ein denkwürdiges Album bleibt.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.aeltere-menschen-und-die-popmusik-voll-krass-alter.7a8dc9a8-0367-4a47-b4d2-7a05c8ac5e1c.html