Der Münchner Jurist Manfred Götzl ist ein Meister der Genauigkeit. Er will jeden noch so kleinen Formfehler vermeiden und schafft, was anfangs viele bezweifelt haben: das Mammutverfahren in geordnete Bahnen zu bringen

München - Diese Genauigkeit. Im Münchner Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Unterstützer des rechtsterroristischen NSU schreiben immer gleich mehrere Richter des Oberlandesgerichts fast jedes Wort mit, das im Saal gesprochen wird – wie in alten Zeiten mit dem Stift auf Papier. Auch andernorts machen sich Richter Notizen. So viel Präzision wie hier aber hat die Juristenwelt noch nicht gesehen. Als der Gutachter Norbert Leygraf einmal zwei Tage fehlt, liest ihm Manfred Götzl, der Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats, eine Stunde lang aus seinen Notizen vor, was der Angeklagte Carsten S. derweil gesagt hat, beinahe wörtlich. Es ist ein Ritual. Leygraf hat nur drei Fragen, die in fünf Minuten beantwortet sind und sich auf nichts von dem beziehen, was Götzl vorgetragen hat. Aber ein Formfehler ist so vermieden worden, der sonst in einer Revision möglicherweise hätte gerügt werden können.

 

Die Richter hätten es sich so viel leichter machen können, wenn sie dem Antrag von Zschäpes Verteidigern nachgekommen wären, die Verhandlung aufzeichnen zu lassen. Von der Sache her wäre es geboten gewesen. Beim Bundesverfassungsgericht werden mündliche Verhandlungen aufgezeichnet, die nur wenige Stunden währen. Aber so ist Götzl Herr seiner eigenen Aufzeichnungen. Wenn er denn je einen Fehler machen sollte, der ließe sich nicht so leicht nachweisen.

Die Richter beim Urteil werden vereinfachen müssen

Die Genauigkeit ist bewundernswert, aber sie ist auch gratis. Am Ende wird es bei 99,9 Prozent von dem, was in zwei oder vier Jahren gesagt worden ist, auf den genauen Wortlaut nicht ankommen. Die Richter werden bei ihrem Urteil und dessen Begründung vereinfachen müssen; es geht gar nicht anders in einem solchen Prozess. Der Richter ist frei, und seine Beweiswürdigung ist es auch, egal wie viel er geschrieben hat.

An vielen Tagen ähnelt die Verhandlung einem Praktikum in juristischer Hochgotik. In den meisten Strafprozessen wird fahrlässig gefragt. Götzl beherrscht das Lehrbuch. Den Zeugen erst frei berichten lassen, dann offene Fragen, erst dann Nachfragen stellen und zum Schluss Vorhalte aus den Akten. Will heißen: jeden Anschein vermeiden, dass der Zeuge durch Suggestivfragen beeinflusst werden könnte. Die Anwälte, seien sie nun Verteidiger oder Nebenklägervertreter, versuchen es natürlich trotzdem. Die Gegenseite muss dann meist gar nicht erst monieren, Götzl greift ein, aber er ist großzügig, er stoppt die Frage nicht, sondern sagt: „Formulieren Sie doch um, dann können Sie die Frage stellen.“ Und die meisten der Schüler, die vor ihm sitzen, lernen es mit der Zeit.

Allzu oft sagen die Zeugen einfach Ja

Schon wieder ein Ritual. Denn natürlich führt Götzl, gerade weil er so präzise fragen kann, jeden Zeugen in die Nähe des Meineids. Alle Richter tun dies. Wenn sich ein Zeuge nicht erinnern kann, dann fragt Götzl, der ja die Akten mit all den früheren Aussagen vor sich hat, immer wieder nach, ob sich der Zeuge nicht doch noch an dieses Detail erinnern könne oder an jenes. Und allzu oft sagen die Zeugen dann: Ja. Sie sagen Ja zu Details, bei denen man außerhalb des Gerichtssaals sich schwer vorstellen kann, dass ein normaler Mensch sie nach Jahren noch erinnert – vor allem aber, dass er noch auseinanderhalten kann, was damals war, was er später zu Protokoll gegeben hat, was er x-mal erzählt hat und was er derweil in den Medien gelesen und im Fernsehen betrachtet hat.

Bei Polizeibeamten kommt hinzu, dass sie, anders als gewöhnliche Zeugen, kurz vor der Vernehmung ihre eigenen Akten noch einmal lesen dürfen, nein: lesen sollen. Eine Stunde lang hält Götzl am Dienstag einem BKA-Beamten jede einzelne Formulierung aus dessen Jahre zurückliegendem Vernehmungsprotokoll vor. „Erinnern Sie sich?“ Und jedes Mal erinnert sich der Beamte brav. Bis endlich deutlich wird, woran sich der Beamte erinnert: an das, was er kurz zuvor im eigenen Protokoll noch einmal gelesen hatte, denn „natürlich“ habe er es vor der Vernehmung noch einmal studiert, bekennt er. Absurdes Theater eben.

Der Richter raunzt manchmal den einen oder anderen an

Auch Götzl vergisst manchmal das Lehrbuch, wenn er sich geärgert hat – beispielsweise am Dienstag, nachdem die Anwälte begründete Zweifel an der Qualität eines wichtigen Belastungszeugen säen konnten, einem Vernehmungsbeamten, der nicht professionell vernommen hatte. Das stört fürs Urteil. Dann kann es passieren, dass der Vorsitzende plötzlich einen ganz anderen Zeugen anraunzt, nur weil er nicht das zu hören bekommt, was er hören will. Das verunsichert den Zeugen erkennbar weit mehr als jede Suggestivfrage.

Bei Götzls Befragungen vergisst man so leicht: Zeugen sind die schlechtesten Beweismittel, die es gibt. Der Mann ist auf die Zeugen aber angewiesen: Für die alles entscheidende Frage, ob Beate Zschäpe Täterin oder nur Helferin war, gibt es keine anderen Beweise.

Götzl, der gefürchtete Richter, der so gerne und sonst so schnell einmal laut wird, nimmt sich in diesem Prozess zusammen. Man sieht ihm manchmal an, wie schwer ihm das fällt. Beispielsweise wenn dieser Anwalt aus Köln, anders als die meisten Nebenklägervertreter, wieder mal nervt und gegen die Strafprozessordnung, gegen Götzls Ordnung, rebelliert. Das sind dann die Augenblicke, an denen Götzl ein bisschen lauter wird, lauter, als es einem souveränen Richter guttut. Aber er heilt das sofort, indem er lächelt, einen Hauch von Selbstironie zeigt. Vor allem aber hat Götzl ein einfaches, aber wirksames Mittel: „So jetzt machen wir fünf Minuten Pause, damit sich die Gemüter beruhigen können.“ Es funktioniert; man glaubt es nicht.

Es fehlen die ebenbürtige Kontrahenten im Gerichtssaal

Götzl hat, zu Beginn sprach wenig dafür, diesen Monsterprozess in halbwegs geordnete Bahnen gebracht. Das ist eine Menge. Dies gelingt Götzl freilich nur deshalb, weil ebenbürtige Kontrahenten im Gerichtssaal fehlen. Die großen, alten Strafverteidiger, die mit ihrer Persönlichkeit eine Verhandlung prägen konnten, sind diesmal nicht dabei: weder die, die in der Lage sind, für ihre Mandanten zu werben, gesellschaftliche Bezüge herauszuarbeiten, noch jene, die zur Konfrontation bereit wären. Die Nebenklägervertreter arbeiten meist professionell, auch engagiert, aber nicht charismatisch. Die Bundesanwälte bleiben im Saal blass, querulieren allenfalls ein bisschen herum.

Götzl zeigt außer den kurzen Anschnauzern keine Emotionen. Und er weckt keine Emotionen. Andernorts versuchen Richter väterlich auf Angeklagte einzuwirken; oder sie lassen ihre Macht und ihre Abscheu erkennen; sie locken mit dem Zuckerbrot der Strafmilderung bei einem Geständnis. Beim jüngsten Linksterroristen- Prozess in Stuttgart hat der Richter die RAF-Täter immer wieder angefleht, reinen Tisch zu machen – übrigens vergeblich. Das ist Götzls Ding nicht. Im Münchner Gerichtssaal sind die Funktionäre des Rechts unter sich.

Der Getriebene sucht die Wahrheit

Und doch ist Götzl ein Getriebener. Die furchtbaren Verbrechen, die in München aufzuklären sind, sind so komplex nun auch wieder nicht. Jeder größere Wirtschaftsstrafprozess bereitet da mehr Schwierigkeiten. Götzl aber hat der Bundesanwaltschaft nachgegeben, die mehrere Hundert Zeugen hören will. Nicht alle sind zwingende Zeugen. Die Frau etwa, die eine Leiche dort gesehen haben will, wo sie nachweislich überhaupt nicht hineinschauen konnte, war es nicht. Der Beamte, der ihretwegen vernommen werden musste, war es auch nicht. Götzl hat in Wahrheit dem öffentlichen Druck nachgegeben, in diesem Strafprozess ein Ausmaß der historischen Wahrheitsfindung zu betreiben, die nicht die Aufgabe eines Strafprozesses sein kann. Das macht es nicht leichter.

Aber Götzl wird diesen Prozess zu Ende bringen. Im Zweifelsfall revisionssicher. Er ist eben ein Perfektionist. Und er ist ein strenger Richter. Auf den Vorsitzenden Richter kommt es freilich nur in einer Richtung an. Ein schwacher Richter kann einen Prozess völlig gegen die Wand fahren. Aber selbst der beste Richter bietet keine Gewähr dafür, dass sein Urteil am Ende der Wahrheit nahekommt, womöglich gar ein gerechtes Urteil ist. Das übersteigt auch seine Kräfte. Er kann nämlich nur über das urteilen, was er zu beweisen können glaubt. Und das wird gerade in München ziemlich weit weg von dem sein, was die Wahrheit ist, die ganze Wahrheit.