Eine der frühesten Beschreibungen des Lenninger Tales stammt von diesem Herrn: Friedrich von Matthisson erblickte die Alb in der blauen Blütenpracht der Frühlingsenziane.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Zwei Jahre nach dem Ende Napoleons bei Waterloo und während des schlimmen Hungerjahrs 1816 zieht es den württembergischen Hofdichter Friedrich von Matthisson von Stuttgart aus ins Freie. Er kommt nach Oberlenningen und liefert eine der frühesten Beschreibungen des blumenumsäumten Ortes, die hier von unserer Zeitung erstmals wieder veröffentlicht wird.

 

Matthisson war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hochberühmt: Beethoven und Schubert vertonten seine Gedichte, Schiller schätzte ihn. Er war auch ein glänzender Journalist und seine Reisebeschreibungen erhalten eine Fülle von historischen Details, die man in keinem Geschichtsbuch findet.

Außerdem hatte Matthisson eine lyrische Gedichtreihe herausgeben, die sogar Dichter abdruckte, die damals kaum ein ernst zu nehmender Kunstfreund las, wie etwa die Gesänge eines verrückten Tübingers namens Friedrich Hölderlin. Da war Hölderlins bester Freund Christian Neuffer doch schon etwas gediegener und Matthisson wollte den Dichterkollegen besuchen. Aber lassen wir den Hofdichter selbst seine Reise im Frühling 1816 beschreiben:

Empfangen mit altschwäbischer Herzlichkeit

Ein sonnenheller Aprilmorgen lud mich ein, den Dichter Neuffer in seinem Pfarrdorfe Zell unter Aichelberg zu begrüßen, wo er, den Amtspflichten eben so treu, als den Musen lebt. Seine Verdeutschung der Aeneis darf die Vergleichung mit keiner ihrer Vorgängerinnen scheuen. Gewiß

erlangt jeder Nichtlateiner durch sie den richtigsten Maßstab für die poetische Größe Virgils.

In Zell ward ich von dem wackern Neuffer mit altschwäbischer Herzlichkeit empfangen. Unter manchen Wanderungen, die der Freund mit mir in der Umgegend machte, war die nach dem Dorfe Ober-Lenningen in jeder Beziehung die genußreichste. Bey heiterm Himmel und warmer Sonne begannen wir unsern Lauf nach dem Lenninger-Thale, in das man über den sogenannten Sattelbogen, einem Gebirgsausschnitte zwischen der Teck und dem Breitenstein hinabsteigt. Den Sattelbogen hatte der Lenz mit dem lasurblauen Teppich der Frühlingsenziane geschmückt. Freundlicher Gruß der lieblichen Alpentochter!

Im Dorfe Ober-Lenningen, das von der silberhellen und raschen Lauter durchströmt wird, fanden wir im Pfarrer Roser und dessen Gattin die artigsten und gefälligsten Wirthe. Beyde lebten einige Monate zu Yverdon, um tiefer in den Geist von Pestalozzis Erziehungswesen einzudringen (Pestalozzi hatte im schweizerischen Yverdon eine Erziehungsanstalt gegründet, Anm. d. Red.).

Sie mussten das ländliche Sorgenfrei verlassen

Auf einem Spaziergange unter Blüthenbäumen, längs dem rauschenden Wasser, schilderte mir der würdige Seelsorger sein häusliches Glück mit den lebhaftesten Farben. Gattin und Kinder sind ihm die Welt. Im Lobe der erstern war er unerschöpflich. Eben so feurig und begeistert malte mir das moralische Bild seiner treuen Lebensgefährtin einst der Dichter Martin Wieland in den Schattengängen am Flüsschen Ilm.

Nur zu bald mussten wir das ländliche Sorgenfrey von Ober-Lenningen verlassen, weil Neuffer sich zu einer Leichenrede für den folgenden Tag anzuschicken hatte. Ich überzeugte mich bey dieser Gelegenheit aufs neue, daß ihm ein Ehrenplatz unter den Kanzelrednern unser Tage von Rechtswegen zu komme.

Die Strecke war nicht gerade kurz: Rund 32 Kilometer haben die beiden Freunde zurückgelegt und trotzdem noch Zeit für erbauliche Gespräche gefunden. Matthissons heute vergessenen Reiseberichte sind deswegen so wichtig, weil sie erstmals die Sehenswürdigen in Württemberg beschrieben, lange bevor Gustav Schwab seinen ersten Reiseführer über die Schwäbische Alb verfasste. Im Jahre 1828 verließ Matthisson Württemberg und genoss die Früchte seines Ruhmes in den Parks von Wörlitz an der Elbe, wo er 1829 starb.

Neuffer war als Theologe tatsächlich erfolgreicher denn als Dichter und wurde später Stadtpfarrer in Ulm. Doch die Geschichte sorgte für Gerechtigkeit: Während Matthisson und Neuffer nur noch einem Spezialpublikum bekannt sind, ist Neuffers Freund Friedrich Hölderlin heute in aller Munde.