Nicht alles, wo Rechtsstaat draufsteht, ist auch wirklich einer. Die Verfassungsrichterin Susanne Baer und die BGH-Präsidentin Bettina Limperg sehen mit Sorge auf die Entwicklung in Polen, Ungarn und der Türkei.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Karlsruhe - Mit Bettina Limperg, der Präsidentin des Bundesgerichtshofs, und Susanne Baer, Richterin im ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts, kritisieren zwei hochrangige Juristinnen die Aushöhlung des Rechtsstaates in Polen. „Was dort geschieht, muss man unter rechtsstaatlichen Kriterien natürlich mit vielen Fragezeichen versehen“, sagt die BGH-Präsidentin Limperg. Teile der Justizreform, wie sie die regierende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit plant, hat Polens Präsident Andrzej Duda nach Protesten vorerst gestoppt. Limperg zeigt sich beeindruckt, dass in Polen und in der Türkei so viele Menschen für den Rechtsstaat auf die Straße gehen.

 

Für die Verfassungsrichterin Baer offenbaren die Entwicklungen in Polen Gefahren für den Rechtsstaat. Der Protest der polnischen Bürgergesellschaft, die eine beeindruckende Geschichte der Emanzipation von autoritären Vorgaben hinter sich habe, und sich jetzt für die Justiz engagiere, sei ein ernst zunehmendes Zeichen. „Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Menschen für den Rechtsstaat und die Justiz auf die Straße gehen“, sagt Baer.

Sie warnt in diesem Zusammenhang davor, dass sich weltweit manche Länder Verfassungsstaat, Rechtsstaat oder Demokratie nennen, es aber nicht seien. „Der Rechtsstaat ist dann nur ein Label, das gesucht wird, um dazu zu gehören. Wir müssen gerade deshalb sehr genau hinschauen, ob das Etikett tatsächlich stimmt, oder aber Etikettenschwindel herrscht“. Eine „illiberale Demokratie“, wie sie der ungarische Ministerpräsident Victor Orban propagiert, gibt es ihres Erachtens nicht.

Politische Mehrheit ist an die Verfassung gebunden

Für den Rechtsstaat seien bestimmte Elemente unabdingbar, wie echte Gewaltenteilung zwischen den Institutionen und eine unabhängige Justiz. Gerichte dürften nicht weisungsgebunden sein, Richterinnen und Richter nicht absetzbar, wenn sie mutig urteilen, Verfahrensrechte nicht manipulierbar. „Gerichte brauchen eine hinreichende Ausstattung und auch in der Politik Respekt, um ihre Aufgabe erfüllen zu können“, fordert Baer. Auch die Bindung einer politischen Mehrheit an die Verfassung gehöre seit 1945 zum Grundkonsens heutiger Gesellschaften, und wenn das ernst gemeint sei, gehöre dazu auch ein Verfassungsgericht.

Bettina Limperg und Susanne Baer setzen sich mit anderen Vertretern aus Justiz, Bürgergesellschaft und der Stadt Karlsruhe für die Schaffung eines „Forums Recht“ ein. In Karlsruhe soll auf dem Areal des Bundesgerichtshofes ein Veranstaltungsort geschaffen werden, der eine Mischung aus Diskussionsforum und Ausstellung sein soll. Gleichzeitig will das Forum auch in den sozialen Netzwerken präsent sein. Die Initiatoren wollen damit auch Menschen erreichen, die sich nicht gehört fühlen. Denn der Rechtsstaat stehe dafür, Menschen, die sich nicht artikulieren können, nicht durch den Rost fallen zu lassen.