Die Zeit der kurzen Wege ist für die Erdbeere vorbei. Sie kommt vom Lkw und nicht aus dem eigenen Garten. Das geht auf Kosten des Geschmacks. Doch es gibt Hoffnung. Eine Handvoll Züchter will der Erdbeere ihren alten Geschmack zurückgeben – zum Beispiel in Stuttgart-Weilimdorf.

Stuttgart-Weilimdorf - Die Frau am Erdbeerverkaufsstand schaut, als hätte man ihr eine unanständige Frage gestellt. „Da muss ich meinen Chef fragen“, sagt sie und blickt vielsagend in die Ferne. Als hätten die Erdbeerbauern – ob kommerzielle Anbieter oder Hobbygärtner – dieses Jahr nicht ganz andere Sorgen, sagt der Blick. Die eisigen Nächte im April gefährden die Obst- und Weinernte wie seit 30, 40 Jahren nicht, sagen die Obstbauern und sprechen von Ausfällen von bis zu 90 Prozent.

 

Dabei, denkt man, ist die Frage doch ganz einfach zu verstehen: Welche Erdbeersorte verkaufen Sie? Würde irgendjemand eine Flasche Wein einfach so erwerben, auf deren Etikett nur „Rotwein“ oder „Weißwein“ stünde? Eben.

Die Frage nach der Erdbeersorte ist verdächtig. Weil sie immer auch die Frage nach dem Geschmack beinhaltet. Der war lange bei der Züchtung neuer Erdbeersorten eine von vielen Charaktereigenschaft, die weit unten stand. Über Erdbeeren zu reden, heißt deshalb zwangsläufig von der Marktoptimierung eines Obstes zu erzählen, vom globalen Handel, regionalen Märkten und Hobbygärtnern. Und erst ganz am Ende kommt auch der Geschmack der Erdbeere, kommen Genuss, Kindheitserinnerungen und – ja, richtig gelesen – daraus resultierende Glücksgefühle. Und ein bisschen hat die Geschichte, die auf ihr Happy End wartet, auch noch mit Tomaten zu tun.

Nur die halbe Erdbeerernte wegen Frostschäden

Doch der Reihe nach: Am Anfang aller Erzählungen steht in diesem Jahr der Kälteeinbruch. Mit der Reife der Erdbeere beginnt eigentlich der alljährliche Zyklus der Obsternte. Dieses Jahr ist alles anders. „Wir haben durch den Frost nur die halbe Erdbeerernte“, sagt Franz-Josef Müller, der Präsident des baden-württembergischen Landesverbandes der Erwerbsobstbauern aus dem badischen Oberkirch. In der vergangenen Woche hat er ein langfristig angesetztes Gespräch im Landtag kurzerhand zu einem Frost-Krisengespräch umfunktioniert. Die Bauern seien in Sorge, weil die Höhe der versprochenen Entschädigungszahlungen noch unklar ist. „Die konkrete Entschädigung wird erst nach Ermittlung der Ertragsverluste nach der Ernte festgelegt“, erklärt ein Sprecher von Landwirtschaftsminister Peter Hauk (CDU).

Die Sorge der Bauern ist verständlich. Üblicherweise werden bei der Genossenschaft Oberkirch zwischen 60 000 und 70 000 Stiegen mit je fünf Kilogramm Erdbeeren pro Tag angeliefert. Nun seien es nur noch 30 000. Wer seine Erdbeeren nicht unter einer Folie anbaut, sondern auf Freiland setzt, steht schlecht da. Aber das tun nur gut zehn Prozent. „Das ist die Zukunft“, sagt Franz-Josef Müller. Gleichzeitig ist es aber auch die unternehmerische Antwort auf den Wunsch der Verbraucher, immer früher heimische Erdbeeren essen zu wollen. Aber frühe Sorten und frühe Ernte, das bedeutet eben auch ein erhöhtes Frostrisiko.

Und nicht einmal die Hoffnung, wenigstens durch ein knappes Angebot und die daraus resultierenden höheren Preise die finanziellen Einbußen kompensieren zu können, wird dieses Jahr erfüllt. „Wir haben globale Märkte“, konstatiert Müller nüchtern. Die spanischen Erdbeerbauern standen parat und fluteten die Supermärkte mit ihrer Ware. Dass lange Transportwege auf Kosten des Geschmacks gehen, spielt für viele Verbraucher eine geringe Rolle.

In Weilimdorf war der Geschmack nie weg

Nicht klein und dunkelrot wie Mieze Schindler, die Ahnherrin des intensiven und guten Geschmacks, will der Markt die Erdbeere heute. Groß, möglichst 20 bis 30 Gramm schwer, und hellrot soll sie sein. Ersteres macht das Ernten billiger, Zweiteres suggeriert Frische, erklärt Klaus Olbricht. Der Gartenbauingenieur hat über Pflanzenzucht promoviert, er doziert an der Humboldt-Universität und steht in Dresden als Produzent auf dem Erdbeerfeld. Renaissance heißt die Neuzüchtung, mit der er am Comeback des alten Geschmacks arbeitet.

Dunkelrote Früchte verheißen Geschmack

Aber man muss gar nicht so weit schauen, um einen Ort zu finden, „wo der Geschmack nie weg war“, sagt Lothar Schatz. Auch redet er lieber von Geschmackserlebnissen, wenn er von Erdbeeren spricht, und nicht von der Transportfähigkeit des Obstes. Er ist der Geschäftsführer der Erdbeerzüchtung Reinhold Hummel in Stuttgart-Weilimdorf. Aus heutiger Sicht war der Firmengründer Reinhold Hummel ein Pionier der Slow-Food-Bewegung. 1947 begann er die Zucht „dunkelroter Früchte, die Freude machen“. Seine Kunden waren der Hobbygärtner und die Hausfrau aus der Region.

„Mit Erdbeeren als der schönsten Verpackungsform von Wasser“, wie Lothar Schatz frotzelt, hatte Hummel nichts am Hut. Der Zucht einheitlicher, hellroter, transport- und lagerfähiger Früchte erteilte er eine Absage. Für ihn wie für das kleine Team um Schatz war und ist Mieze Schindler – die geschmacksintensive Sorte aus den 20er Jahren – das Maß aller Dinge. Die Weilimdorfer Sorten heißen denn auch vielversprechend Hummi-Praline, Herzle und bald nach zwölf Jahren Zucht auch wieder Neue Mieze.

Schwäbische Erdbeertüftler

Wer den Betrieb besucht, taucht in dem Labor in eine skurrile Welt der Weckgläser und Lichtzeitschaltuhren ein. Auch das waren Hummel und seine Tochter Sonja Merkle: schwäbische Tüftler, die Wissenschaft in die Praxis übersetzten. Denn gezüchtet werden die Pflanzen hier in der sogenannten Meristemvermehrung im Labor: Aus omnipotenten Zellen der idealen Erdbeere wachsen in einer Nährlösung und unter bestimmten Laborverhältnissen neue identische Erdbeerpflanzen heran – virus-, pilz- und bakterienfrei. Erst später werden sie ausgepflanzt. „Mit Gentechnik hat das nichts zu tun“, sagt Sonja Merkle, die gerade in Rente gegangen ist. Sie hat diese Form der Klonierung von der Orchidee auf die Erdbeere übertragen. Sie studierte in München Biologie, als der Vater Mitte der 70er Jahre rief und nach ihrer Expertise verlangte. Die anspruchsvollen Aussaatflächen in Stuttgart waren knapp. Das Weckglas als billigstes zu sterilisierendes Gefäß ersetzte den Acker. Bis heute.

Und doch führen Zuchtbetriebe einen anstrengenden Kampf gegen Geschmacksgewohnheiten, wenn sie die neuen alten Sorten am Markt etablieren wollen. Ein bisschen sind sie wie das gallische Dorf, das sich gegen den Aromaverlust stemmt. Mit jeder Kundengeneration stirbt auch ein Stückchen Geschmackserinnerung. Hans Müller, dessen Kornwestheimer Pflanzenproduktionsfirma Firma Helix nun mit Schatz zusammenarbeitet, glaubt jedoch, dass Verbrauchergewohnheiten umkehrbar sind. „Wir sind so was wie das Hällische Landschwein bei den Erdbeeren“, sagt er zuversichtlich.

Wir haben verlernt, wie eine Erdbeere aus dem Garten schmeckt

Denn Geschmack ist auch gesund. Was schmeckt, erzeugt laut gastroneurologischer Forschung Glücksgefühle. Argumente gäbe es also für eine Geschmacksbesinnung. In einem Bericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ist jedoch von einer Gewöhnung an die sensorisch mangelhaften Eigenschaften der Nahrung die Rede, die auch mit einem Verlust an gesunden Inhaltsstoffen einhergeht. „Die Menschen haben verlernt, wie eine Erdbeere aus dem Garten schmeckt, wenn man sie sofort verzehrt“, sagt Detlef Ulrich. Er arbeitet in Quedlinburg im Julius Kühn-Institut, dem Bundesforschungsamt für Kulturpflanzen, und ist der deutsche Erdbeergeschmacksexperte schlechthin. Wobei er lieber das angelsächsische Wort Flavour verwendet. Es bezeichnet das Zusammenspiel dessen, was der Mensch beim Verzehr im Mund wahrnimmt und, was er über die Riechorgane empfindet. Zwei sensorische Systeme treffen da aufeinander. Die chemisch-physikalischen Eigenschaften der Erdbeere lassen sich messen. Das sogenannte Aromaprofil zeigt, was den Geschmack von Mieze Schindler, der alten und gehaltvollen Erdbeersorte, ausmacht. Bei der lange den Markt dominierenden Sorte Elsanta sind die Stoffe kaum mehr nachweisbar. In der neueren Elegance ist „fast gar nichts mehr drin“. Ulrich ist überzeugt: „Transportfähigkeit und hohes Aroma schließen sich aus“. Je fester die Erdbeere, desto weniger Geschmack. „Der Markt siegt über das Aroma.“ Damit legt er den Finger in die Wunde. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen: Neben den 143 000 Tonnen, die 2016 in Deutschland geerntet wurden, wurden noch einmal um die 90 000 Tonnen importiert.

Dass der Geschmack fehlt, kann man messen

Und doch gibt es Hoffnung. Ulrich und Olbricht setzen auf den Tomateneffekt. Auch deren Geschmack und Image war in den 80er und 90er Jahren ziemlich am Ende. Nun gibt es wieder schmackhafte Sorten. Bei seinem Besuch in der Gegend um Changfeng, im chinesischen Erdbeerland, ist Ulrich auf leckere Sorten in der Direktvermarktung gestoßen. „Es gibt Tendenzen“, sagt er hoffnungsvoll. „Geschmack kann man trainieren“, sagt Klaus Olbricht. Auch Sonja Merkle, die noch immer regelmäßig im Labor steht, ist optimistisch und verweist auf die in Mode gekommenen Balkonerdbeeren und das Urban Gardening.

Und: Man kann sie nach den Namen der Erdbeeren fragen, die in ihrem Garten wachsen. Da ist sie ganz anders als die Frau am Obststand.