Cem Özdemir spricht über seine Begegnung mit dem türkischen Präsidenten Erdogan und dessen Staatsbesuch in Deutschland. Er löst dabei ein kleines Rätsel auf.

Berlin - Der Erdogan-Kritiker Cem Özdemir hat Recep Tayyip Erdogan bei dessen Staatsbesuch in Deutschland getroffen. Im Interview spricht der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete über seine Begegnung mit dem türkischen Präsidenten.

 

Herr Özdemir, manch einer will beim Staatsbankett von Recep Tayyip Erdogan eine „Wutrede“ oder gar „Hassrede“ gehört haben? Wie haben Sie das wahrgenommen?

Auf der Palette seiner Eskalationsmöglichkeiten war das sicherlich nicht die höchste Stufe. Aber er war natürlich nicht amüsiert über die Tischrede unseres Bundespräsidenten. Umso mehr geht das Kompliment an Frank-Walter Steinmeier, dass er die Lage in der Türkei in Bezug auf Menschenrechte und Pressefreiheit so deutlich zum Thema gemacht hat. Das hat Erdogan offensichtlich erbost, weil er damit nicht gerechnet hat.

War die Stimmung im Anschluss vergiftet?

Erdogan ist nicht mehr zum Empfang geblieben, sondern gleich abgereist. Ich kann mir vorstellen, dass sein Besuch etwas anders abläuft, als er sich das vorgestellt hat. Das spricht dafür, dass Erdogan vieles nicht mehr richtig mitbekommt. Er ist von Prinzen umstellt und hat nicht mehr wie früher auch Leute um sich, die Deutschland gut kennen und ihm erklären können, wie die Debatte hier läuft. Er scheint die Lage völlig zu verkennen: Die Türkei braucht gerade Deutschland, die Türkei braucht Europa, sie steht wirtschaftlich bis zum Hals im Wasser. In seiner Rede konnte man davon nicht einmal in homöopathischen Dosen etwas merken. Sie war völlig frei von jeder Art von Selbstkritik und malte ein rosarotes Bild von einem Land ohne Probleme, während Bundespräsident Steinmeier auch sehr wohl unsere eigenen Schwierigkeiten erwähnt hat.

Am Anfang der Pressekonferenz mit Bundeskanzlerin Angela Merkel konnte der Eindruck entstehen, dass Erdogan tatsächlich mildere Töne anschlägt, um die Wirtschaftsbeziehungen zu stärken – dann folgten seine unnachgiebigen Aussagen zum Thema Pressefreiheit.

Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen sehen, ob sich das erfüllt, was sich die Bundesregierung von diesem Besuch versprochen hat. Erdogan hat nämlich auch sehr viele Bilder bekommen, die er wollte. Die Frage ist jetzt, ob eine Gegenleistung erfolgt: Die Freilassung der restlichen deutschen Geiseln wäre eine Selbstverständlichkeit. Der ein oder andere prominente oppositionelle Journalist könnte aus dem Gefängnis entlassen werden, beispielsweise die Frau von Can Dündar oder der Mann von Mesale Tolu.

Braucht es auch eine Gegenleistung in Bezug auf Erdogans Handeln in Deutschland?

Auf jeden Fall. Namentlich über Ditib versucht Erdogan, die Moscheen in der Bundesrepublik zu instrumentalisieren. Ein besonders krasses Beispiel sind die Osmanen, die derzeit in Stuttgart vor Gericht stehen, wo wir es mit Schläger- und Zuhältergruppen zu tun haben, die Erdogan in Deutschland unterhält, um Leute einzuschüchtern. Der Gipfel des Ganzen ist diese Überwachungs-App für’s Handy, die gerade freigeschaltet wurde, mit der man Kollegen oder Nachbarn bei der Einreise in die Türkei ans Messer liefern kann – das schürt massiv Unfrieden in Deutschland, schafft Angst und muss sofort beendet werden. Wenn sich da nichts tut, fällt die Bilanz des Erdogan-Besuches für die Bundesregierung sehr negativ aus.

Immerhin hat Erdogan die 3,5 Millionen Türkischstämmigen in Deutschland zur Integration aufgerufen.

Das hat er schon früher gemacht, nur ist sein Verständnis von Integration ein anderes als das unsere. Wir sagen, dass hier ausschließlich das deutsche Grundgesetz gilt und nicht Erdogans Angst-Ordnung. Es braucht da eine Entscheidung: Man kann nicht gleichmäßig loyal gegenüber dem Grundgesetz und Herrn Erdogan sein.

Zum Schluss: Sie haben Erdogan beim Defilee die Hand geschüttelt und dann länger auf ihn eingeredet. Was haben Sie ihm gesagt?

Ich kenne ihn ja noch aus Zeiten, als er ganz andere Dinge gesagt hat und mit ganz anderen Versprechen an die Macht gekommen ist. Ich habe ihm daher gesagt, dass es viel zu besprechen gibt und vom früheren Erdogan leider nichts mehr übrig ist – so gut das ging in der Kürze der Zeit, die ihm wahrscheinlich deutlich länger vorkam wie mir (lacht). So ein Defilee ist ja eigentlich dazu gedacht, die Hände zu schütteln und weiterzugehen, nicht aber um sich zu unterhalten. Aber auch Außenpolitik braucht Haltung.

Sie trugen dabei einen türkischen Button – was stand drauf?

Ein Zitat meines schwäbischen Landsmanns Friedrich Schiller aus „Don Carlos“: Geben sie Gedankenfreiheit. Auf Türkisch „Düşünceye özgürlük“. Jetzt kann Erdogan immerhin sagen, er habe Schiller gelesen.