Torwart Andreas Wolff hat sich zum Lautsprecher der deutschen Handballer entwickelt. In Rio, glaubt er, könnte der Auswahl der große Wurf gelingen.

Rio de Janeiro - Es gibt im Handball keinen wichtigeren Spieler als den Torwart. Er muss die Ruhe bewahren, wenn ihm die Kugeln um die Ohren fliegen, im entscheidenden Moment explodieren, lautstark seine Verteidigung organisieren, den Gegner verunsichern. Oft sind Torwarte extrovertierte Typen – auf dem Spielfeld. Und nach dem Schlusspfiff das genaue Gegenteil. Andreas Wolff ist anders.

 

Vor der EM im Januar in Polen kannten ihn nur die Experten, hinterher die ganze Handball-Welt. Wolff war der Anführer eines Rudels, das sich selbst „bad boys“ nannte und völlig überraschend den Titel holte. Nicht nur, aber auch wegen der Klasse seines Keepers. Dessen Verhalten hat sich seither nicht verändert („Meine Freunde haben vorher gesagt, ich hätte einen an der Klatsche – sie sagen es jetzt immer noch“), seine Rolle sehr wohl. Und er nimmt sie gerne an. Wolff hat sich, was durchaus ungewöhnlich ist für einen Handball-Torwart, zum (Laut-)Sprecher seines Teams gemausert. Zum Gesicht einer ganzen Sportart. Das ist auch in Rio de Janeiro zu spüren. „Ich habe vor der EM gesagt, dass ich nach Polen fahre, um zu gewinnen“, erklärt Wolff, „und jetzt sind wir nach Brasilien geflogen, um Olympiasieger zu werden. Unser Kader ist stark genug, um Gold zu holen.“

Wolff weiß, dass die Konkurrenz stark ist

Schön ist: wenn Andreas Wolff, 1,98 Meter groß und 100 Kilogramm schwer, solche Aussagen trifft, sind sie gewichtig. Aber sie klingen nie überheblich, selbstverliebt oder arrogant. Weil Wolff einer ist, der schon bewiesen hat, was er kann. Und weil er realistisch genug ist, um einzuschränken: „Ein Europameister gehört automatisch zu den Favoriten. Es wäre unverschämt, dies zu leugnen. Aber es gibt auch noch andere sehr starke Mannschaften.“ Möglich ist, dass den Deutschen erneut der große Wurf gelingt. Aber es ist alles andere als sicher.

Dänemark, Frankreich, Kroatien, Polen, Katar – das halbe Teilnehmerfeld spielt auf einem enorm hohen Niveau und um die Medaillen. Prognosen? Sind äußerst schwierig. Zumal niemand weiß, ob das deutsche Team nahe der Atlantikküste noch mal eine ähnliche Erfolgswelle erwischt wie vor einem halben Jahr in Polen.

Zwar ist der damals verletzte Kapitän und Linksaußen Uwe Gensheimer wieder dabei, dafür fallen zunächst die nur als Ersatzleute nominierten Steffen Weinhold (Muskelfaserriss) und Steffen Fäth (auskurierter Handbruch) aus. Beide wären im Rückraum gesetzt gewesen, auch im Auftaktspiel an diesem Sonntag (16.30 Uhr MESZ) gegen Schweden. Dazu kommt, dass die letzten Vorbereitungsspiele alles andere als optimal liefen. Weshalb der Leitwolf seine Schäfchen zur Ordnung rief. „Es ist nicht wichtig, wie man sich nennt, sondern dass man Leidenschaft, Kampf und Herz an den Tag legt“, schimpfte Wolff, „wir dürfen uns nicht für die Größten halten und denken, dass wir spielerisch mit allen mithalten können.“

Kommt es zum Duell mit Silvio Heinevetter?

Der Torwart weiß um seine Stellung im Team. Wolff weiß aber auch, dass er nur so bissig sein kann, solange er selbst etwas reißt. Seine exzellente EM? Der Titel „Handballer des Jahres 2015“? Verblassen, sollte er bei den Spielen ein paarmal zu viel hinter sich greifen müssen. Erst recht, weil der Bundestrainer Dagur Sigurdsson im Tor neue Reize setzt. Bei der EM baute er neben Wolff noch auf den stets loyalen, immer zufriedenen Teamspieler Carsten Lichtlein. In Rio ist Silvio Heinevetter zweiter Mann, der selbst gerne im Mittelpunkt stehen. „Kein Problem“, meint Wolff, der nach den Sommerspielen zum THW Kiel wechseln wird, „bei so einem Turnier stellt niemand seine egoistischen Bedürfnisse voran.“ Es könnte sein, dass Wolff und Heinevetter sich gegenseitig antreiben. Aber auch, dass ihre Rivalität sie hemmt. Eine interessante Konstellation ist es allemal.

Andererseits hat Sigurdsson schon oft gezeigt, dass er bei der Auswahl seines Personals ein gutes Händchen hat. Prunkstück beim EM-Sieg war die Abwehr, hier sind die Deutschen auf jeden Fall in der Lage, sich im Vergleich zur Vorbereitung zu steigern. Das zweite Problem, die Chancenverwertung, ist weniger einfach in den Griff zu bekommen. Wurfglück kann man nicht erzwingen. Und trotzdem: Grund zu übergroßem Pessimismus gibt es sicher nicht. Das sieht auch Andreas Wolff so. Auf die Frage, ob er sich an spielfreien Tagen auch andere olympische Disziplinen anschauen werde, antwortet er: „Nur das Gewichtheben der Frauen.“ Und im Ernst? „Wir sind doch nicht in Rio, um Sporttourismus zu betreiben. Sondern um eine Medaille zu holen.“