Künftig werden Experten zufolge erheblich mehr Frischwaren im Netz gekauft. Noch feilen die Händler daran, die Bestellvorgänge und die Logistik zu optimieren. Bei Testeinkäufen kamen Obst und Gemüse teils verfault und verderbliche Ware ungekühlt an.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart - Bücher, Elektronik, Kleidung, Schuhe – beinahe alles bestellen die Bundesbürger regelmäßig im Netz. Eier, Milch und Obst hingegen fast nie. Der Lebensmittelhandel gilt als eine der letzten stationären Bastionen. Bei nur 1,2 Prozent liegt der Online-Anteil laut der Gesellschaft für Konsumforschung – Tiernahrung und Drogerieartikel schon inklusive. Zum Vergleich: Im Non-Food-Bereich beträgt der Anteil bereits 20 Prozent.

 

Dem deutschen Verbraucher fehle noch das Vertrauen in den Online-Lebensmittelhandel, sagt Sascha Berens, Experte für E-Commerce beim Kölner Institut EHI Retail. Doch der Markt ist im Umbruch. Von den knapp 200 Milliarden Euro Jahresumsatz sind nach Meinung einiger Experten bis zu 60 Milliarden Euro neu zu verteilen. Doppelverdiener mit Kindern, möglichst auch noch mit Hund, gelten als besonders attraktive Zielgruppe, weil sie ihren Warenkorb üppiger füllen als Senioren und Singles. Dreimal so viel wie im stationären Handel – zwischen 50 bis 150 Euro – geben die Kunden den Anbietern zufolge pro Einkauf im Online-Supermarkt aus. Wie viele Bestellungen am Tag entgegengenommen werden, darüber bewahrt die Branche freilich Stillschweigen.

Es gibt viele Fach- und Spezialitätenhändler

Als erster großer klassischer Vollsortimenter ist Rewe im September 2011 an den Start gegangen. Inzwischen betreiben die Kölner einer Studie des Instituts für Handelsforschung zufolge Deutschlands beliebtesten Lieferservice. Bundesweit werden Kunden in mehr als 75 Städten beliefert, 12 000 Produkte stehen zur Auswahl. Der reine Online-Supermarkt AllyouneedFresh (ein Tochterunternehmen der DHL), und myTime.de (E-Shop der norddeutschen Bünting-Unternehmensgruppe) haben sogar mehr als 20 000 Produkte auf Lager.

Potenzial sehen E-Food-Fachleute auch bei Gourmetanbietern, von denen es derzeit Dutzende gibt. Feinkost Böhm etwa will den digitalen Bereich ausbauen. „Dabei konzentrieren wir uns als regionaler Einzelhändler auf den Raum Stuttgart“, heißt es dort.

Doch nicht alle erwarten den ganz großen Umbruch. Der Handelsexperte Dirk Morschett von der Uni Fribourg verweist darauf, dass der deutsche Markt in mehrfacher Hinsicht ein spezieller sei (siehe Interview). Bei rund 39 000 Supermärkten, Discount-Läden und SB-Warenhäusern sei im Schnitt fast jedes Geschäft fußläufig erreichbar. Statt sich über Mindestbestellwerte, Verpackungsberge und feste Lieferzeiten zu ärgern, könnten die Bürger den Einkauf „nebenbei“ tätigen – anders als in Frankreich mit seinen riesigen „Hypermarchés“. Hinzu kommt, dass die Deutschen extrem preissensibel agieren. Dafür, dass ihnen die Waren bis an die Haustür geliefert werden, wollen sie weder höhere Preise noch Gebühren bezahlen. Dabei halten es Experten sogar für wahrscheinlich, dass die Liefergebühren und eventuell auch die Produktpreise steigen werden. Schließlich wollen die Händler das Onlinegeschäft nicht dauerhaft subventionieren – das wäre angesichts der geringen Margen im Lebensmitteleinzelhandel kein attraktives Geschäftsmodell.

Entsprechend schwer tun sich selbst die Großen mit dem Einstieg in den Online-Handel: So bieten Lidl und Edeka24 (fast) ausschließlich Trockenware an, weil sie den logistischen Aufwand bei Frischware und Tiefkühlkost scheuen. Tatsächlich hat der Versand von verderblicher Ware Tücken, wie sich kürzlich bei Testeinkäufen der Verbraucherzentrale Brandenburg herausgestellt hat. Ein Großteil der 32 untersuchten Shops – ermittelt wurden 179 – arbeiten demnach professionell, aber in der Kühlkette besteht mächtig Nachholbedarf. „Teilweise kamen diese Waren mit derart erhöhten Temperaturen an, dass hier von einer Unterbrechung der Kühlkette auszugehen war“, sagen die Verbraucherschützer. Zudem waren bei den Testlieferungen ein Viertel des Obsts beziehungsweise Gemüses überreif, verfault oder verschimmelt.

Mängel bei Testeinkäufen

Bei der Nutzerfreundlichkeit müssen dem Handelsexperten Berens zufolge ebenfalls noch Hürden überwunden werden. „Den perfekten Shop gibt es derzeit nicht“, sagt er. Rewe etwa liefert Frisch- und Tiefkühlwaren und setzt dazu eine eigene Fahrzeugflotte ein. Trotzdem fehle es an Details, meint Berens, „frisches Brot, Hackfleisch, Waren aus der Frischetheke, all das wird online nicht abgebildet“. Weiteres Manko: Der klassische Su-permarkteinkauf werde einfach ins Netz übertragen, „ohne das Potenzial der digitalen Möglichkeiten auszuschöpfen“.

Lebensmittel lassen sich jetzt per Whatsapp ordern

Genau das will AllyouneedFresh nun anpacken: Seit einigen Monaten können Kunden Lebensmittel per Whatsapp ordern. Haben sie ihre Einkaufsliste verschickt, erhalten sie einen Link zu den passenden Produkten. Man orientiere sich dabei an den Einkaufsgewohnheiten des Einzelnen und bei Neukunden an den beliebtesten Artikeln im Online-Shop, sagt der Sprecher Max Thinius. „Das ist ein wertvolles Projekt, weil wir so auch die Suche optimieren können.“ Kleinere Zeitfenster, Abendzustellung, Mehrwehsysteme – die DHL-Tochter hat laut Thinius logistisch viel gelernt.

Optimierungspotenzial sieht er bei den Packprozessen in den beiden Lebensmittellagern sowie bei den Bestellvorgängen. „Interessant wird es, wenn sich sprachgesteuerte Technologie durchsetzt“, glaubt Thinius. Er ist davon überzeugt, dass in ein paar Jahren keiner mehr für Shampoo, Toilettenpapier und andere Produkte des täglichen Bedarfs losziehen wird. Das werde sich auf die Innenstädte auswirken: „Dort wird es mehr kleinere, spezialisierte Läden geben.“

Ein Global Player könnte in naher Zukunft die Branche richtig aufmischen: Händler fragen sich besorgt, wann Amazon hierzulande ins Frischwarengeschäft einsteigt. Doch selbst der Shopping-Riese aus Seattle feilt offenbar noch an der richtigen Mischung von Offline- und Online: Dem „Wall Street Journal“ zufolge plant Amazon die Eröffnung kleiner Läden, in denen Milch, Fleisch und andere verderbliche Produkte angeboten werden.