Der Intendant Armin Petras verabschiedet sich mit einer letzten Inszenierung vom Stuttgarter Schauspiel: George Orwells Utopieklassiker ,,1984“ entpuppt sich unter seiner Regie als Rockoper, die an ihren Figuren allerdings kaum Interesse zeigt.

Stuttgart - Die Speerspitze des Fortschritts ist China. Nirgendwo auf der Welt hat man es mit Kontrolle und Sicherheit so herrlich weit gebracht wie in Peking, wo die kommunistischen Machthaber jeden Fehler im System verlässlich aufspüren und ausmerzen. Jetzt arbeiten ihre Sozialingenieure an einem digitalen Punktesystem für gesellschaftliches Wohlverhalten – wobei im Erfolgsfall keineswegs ausgeschlossen ist, dass diese Erfindung aus dem Reich der Mitte, sonst eher ein Reich der Kopisten, ihrerseits in westlichen Gesellschaften kopiert und adaptiert wird. Ozeanien macht es schon vor: Wenn Genosse Winston im Stuttgarter Schauspielhaus seiner Nachbarin Parsons das Becken, welches auch immer, repariert, erhält er dafür zwei Likes in seinem Faceheft.

 

Ozeanien ist der fiktive, vom Großen Bruder regierte Staat in George Orwells Romanklassiker „1984“. Das Buch stammt, ziffernverdreht, von 1948 und speist sich aus den Erfahrungen, die der britische Schriftsteller, Journalist und BBC-Kommentator mit den totalitären Systemen seiner Zeit gemacht hat. Entstanden unter dem Eindruck der Jahrhundertverbrechen von Stalin und Hitler, konnte es zum Jahrhundertbuch aber trotzdem nur werden, weil der Autor die grausame Logik aller Totalitarismen konsequent zu Ende gedacht hat. ,,1984“ avancierte zum Prototyp aller negativen Utopien – und noch heute macht staunen, mit welchen prophetischen Gaben ihr Urheber gesegnet war. Auch wenn Orwells Schreckensvisionen selbst in China noch nicht Wirklichkeit geworden sind, ist die Saat des Grauens doch gesät. Lückenlose Überwachung der Bürger, interessengeleitete Lenkung der öffentlichen Meinung, Verbreitung alternativer Wahrheiten, alles in großem Stil: mit digitalem Support wanzt sich Big Brother heute schamlos an uns alle ran.

Orwell und die großen Brüder aus Amerika

„1984“ indes hat sich in den vergangenen Jahren in dieSpielpläne der Theatergeschlichen. Auch Armin Petras griff zu und fügte den schon existierenden Stoffbearbeitungen seine eigene hinzu. Die Regie hat er auch gleich mit übernommen und sein Orwell-Stück vor vierzehn Tagen in Düsseldorf herausgebracht. Die Stuttgarter Premiere ist die Zweitpremiere – und zugleich die Abschiedsinszenierung des regieführenden Intendanten, der das hiesige Schauspiel zum Saisonende verlässt, um fortan als freier Mann zu arbeiten. Man mag in dem dreistündigen Abend deshalb auch eine Art Vermächtnis sehen. Sollte es in den fünf Petras-Spielzeiten je einen dramaturgischen Faden gegeben haben, dann diesen: das Plädoyer für die offene Gesellschaft und, umgekehrt, die Warnung vor jeglicher Form der Orthodoxie. Darum also „1984“ im Schauspielhaus und die Likes, die der im mausgrauen Anzug aus Plaste und Elaste versinkende Winston für seine Beckenarbeit bei der schäbig aufgetakelten Frau Parsons erwartet.

Die Faceheft-Likes stehen nicht bei Orwell. Er konnte Bill Gates, Steve Jobs und Marc Zuckerberg nicht kennen, anders als Petras, der die Erfindungen der großen Brüder aus Amerika in seine Inszenierung einfließen lässt, allerdings ganz, ganz sachte. Überraschenderweise verzichtet die Bühne von Olaf Altmann auf alles, was Petras sonst lieb und teuer ist. Keine einzige Leinwand ist zu sehen, kein Videoscreen, kein Computer, keine Kamera. Dafür eine riesige, schwarz rotierende Trommel mit Sehschlitzen sowie ein mächtiger, vom Bühnenhimmel herabsteigender Zylinder, der wie ein Teleskop bis auf die Bühnenerde ausgefahren werden kann. Zwischendrin fällt durch das Rund milchiges Licht von oben nach unten – vermutlich dann, wenn Big Brother von seinen Höhen ein göttliches Auge auf die Bürger von Ozeanien wirft: Auf hintergründige Weise pointieren Sehschlitz und Teleskop eine Totalüberwachung, die zwar symbolisch über den uniformen Orwell-Staat hinausweist, aber doch organisch aus seinem Kontrollwahn erwächst. Und was für die beeindruckende Bühne gilt, gilt auch für die Inszenierung: Im vollen Bewusstsein der uns heute digital auflauernden Gefahren bleibt sie der Vorlage mit ihrer technisch analogen Antiquiertheit treu.

Der behutsamen inhaltlichen Auffrischung steht – spätestens jetzt muss es raus – ein radikales formales Update gegenüber. Rechts und links am Bühnenrand postiert der Regisseur die vier Musiker von Woods of Birnam mit dem Kampfauftrag, „1984“ zur Rockoper aufzudonnern. Das Quartett erfüllt den Job mit Bravour. Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboards, Vocals: mit starken, lauten, aggressiven Songs treiben die schwarzen Kapuzenmänner mit weißgeschminkten Gesichtern die Handlung voran. Sie liefern also nicht nur den Soundtrack, sondern auch die wesentlichen Bausteine dieser Dystopie und legen sich mit ihrer druckvollen Gothic-Performance hämmernd, dräuend und textlastig auf das auch mit choreografischen Elementen spielende Erzähltheater. Big Brother is rocking you, derart gekonnt, dass in dieser phonstarken Show die Orwell-Story doch ins Hintertreffen gerät. Das ist die Crux der Inszenierung: Petras interessiert sich in seinem Konzert für Lieder und Bilder, für akustische und visuelle Effekte, aber nicht für die Figuren, die er zum Bühnenleben erwecken soll. Was er mit Händen aufbaut, reißt er mit dem Hintern wieder ein.

Christian Friedel als quecksilbriger Big Brother

Man nimmt an seinem Orwell-Personal keinen Anteil: Wenn sich Winston, der im Ministerium für Wahrheit arbeitet, heimlich mit der im Ministerium für Traumdesign angestellten Julia trifft; wenn sich beide dem Widerstand anschließen und in den Gefängnissen des Regimes landen; wenn Winston dort von O’Brien bestialisch misshandelt wird, bleibt man als Zuschauer ungerührt. Daran ändert auch das Kunstblut nichts, das im Folterkeller verspritzt wird – und daran ändert auch Wolfgang Michalek nichts, selbst wenn er als intellektueller Folterknecht einen imposanten Auftritt hinlegt. Die sonst so famose Lea Ruckpaul bleibt als Julia allerdings hinter ihren Möglichkeiten zurück, während Robert Kuchenbuch als Winston fast ganz ausfällt: Mausgrau wie sein Strampler-Anzug ist auch sein Spiel.

Vor diesem Hintergrund leuchtet nur einer: Christian Friedel, der als Sänger und Keyboarder die Woods of Birnam anführt, sich aber auch in den mephistophelisch quecksilbrigen Big Brother verwandelt. Rockend und röhrend führt er durch die bildstarke Totalitarismus-Revue, als die sich „1984“ im Schauspielhaus erweist. Das ist jeden Like im ozeanischen Faceheft wert.