Es macht bei einem Achillessehnenriss halb plopp, halb peng – und schon hängt, wie unser Kolumnist Oskar Beck weiß, der WM-Traum in der Luft wie der Wadenmuskel.

Stuttgart - Die folgende Kolumne ist aus medizinischer Sicht lebensgefährlich – sie kann zu einer Thrombose führen. Der Doktor wird jedenfalls die Stirn wieder runzeln. Streng mustert er bisweilen den geschwollenen Fuß mit der rötlich schimmernden Wunde und fragt sich, ob ich mich an seine heilsamen Verordnungen wirklich halte. „Geben Sie sich“, will er wissen, „immer pünktlich die Spritze?“

 

„Jeden Abend“, nicke ich, „mal rechts vom Nabel, mal links.“

„Nehmen Sie die Tablette?“

„Vorschriftsmäßig“, schwöre ich.

„Und das Bein“, bohrt er weiter, „legen Sie es hoch?“

„Ja“, lüge ich.

Rein in den Sessel, Laptop auf den Bauch

Jeder Journalist hat beim Schreiben den Fuß unter dem Tisch, aber mein Doktor will, dass ich ihn auf den Tisch lege und meine Kolumnen in den nächsten Wochen mit gestrecktem Bein formuliere. Wenn beim Fußball einer mit dem gestreckten Bein kommt, zieht der Schiedsrichter aus der Hose sofort die Arschkarte: glatt Rot. Doch Dr. Thomas Frölich denkt anders. Rein in einen Sessel, sagt er, Laptop auf den Bauch, ein paar dicke Kissen auf einen Schemel und das Bein drauf, und zwar so, dass der Fuß auf Herzhöhe liegt. Wenn ich dann zaghaft einwende, dass keine Kolumne solche Verrenkungen aushält und ich mir vorkomme wie ein Einarmiger beim Einwurf, sagt er nur: „Wollen Sie nun zur WM – oder nicht?“

Alles ist gebucht. Sepp Blatter hat meine Anwesenheit in Brasilien genehmigt, der Flug ist am 7. Juni, meine Hacienda beim DFB-Camp gleich um die Ecke, und Jogis Jungs legen Wert darauf, dass ich komme, denn bei meinen neun WM-Teilnahmen sind wir zweimal Weltmeister, zweimal Vizeweltmeister und zweimal Dritter geworden. Und jetzt das – ich leide wie Michael Ballack vor vier Jahren oder wie Sami Khedira bei seinem Kreuzbandriss.

Kurz vor der Rückhandpeitsche hat es „Plopp“ gemacht

Man sollte kurz vor einer Fußball-WM nicht mehr Tennis spielen und schon gar nicht mit einem pfeilschnellen Schritt nach links zu einer spektakulären Rückhandpeitsche ansetzen. Plopp hat es gemacht, einfach plopp. Vielleicht war es auch ein Peng, jedenfalls war es ein jäher Knall, und dank der Gnade der frühen Geburt wusste ich sofort: wie bei Uwe. 20. Februar 1965, Waldstadion, Eintracht gegen den HSV, 56. Spielminute. Anderntags, frisch operiert, sagte Uwe Seeler: „Ich dachte, da unten hat mich ein Elefant getreten.“

So ein Achillessehnenriss kann einen Ochsen töten. Man fällt um wie erschlagen, spürt einen ekligen Schmerz, sehnt sich nach der Vollnarkose, das Bein hat keine Kontrolle mehr, der Wadenmuskel hängt haltlos im Nichts, und das auch noch in Amerika. Hinkend habe ich mir eine Mullbinde und einen Stützstrumpf besorgt, mich auf den Flughafen in Miami geschleppt und nach der Landung in Echterdingen direkt weiter zu Doc Frölich, dem früheren VfB-Meisterarzt. Die Diagnose nach der Kernspintomografie, kurz und verletzend: „Abriss.“

Uwe Seeler hat eins herzzerreißende Briefe bekommen

Kobe Bryant, der Basketballkönig, kämpft mit einem solchen seit Monaten. Auch Rosi Mittermaier, erzählt der Doc, hat es einmal erwischt, beim Slalom, trotz des Skistiefels. „Mich übrigens auch“, sagt er und zeigt mir die Narbe. Es trifft nur die Besten, und man ist fast froh, dazugehören zu dürfen. Er hat mich dann operiert, und es gibt nichts Schöneres, als hinterher wieder aufzuwachen – in der Hoffnung, dass es einem ergeht wie Seeler, der über sein damaliges Krankenzimmer noch heute schwärmt: „Überall standen Blumen. Auch die Briefe, die gekommen sind, waren herzzerreißend.“

Uwe war schon ein halbes Jahr später wieder fast der Alte und hat, obwohl ein Achillessehnenriss zu der Zeit noch als sicherer Karriereabschluss galt, die deutsche Mannschaft mit einem Spezialschuh zum 2:1 gegen Schweden und zur WM 1966 geschossen.

Doktor Frölich, der heilende Hexer

„Disziplin ist alles“, trichtert der Doc mir ein und lobt Khedira, der mit seinem Knie gelegentlich bei ihm im VfB-Rehazentrum war. Außerdem betreut er Hoffenheims belgischen Torwart Koen Casteels, dessen WM-Träume bedroht sind durch einen Schienbeinbruch, und vor ein paar Tagen ist Dimitri Tarasow von Lok Moskau gekommen. Kreuzbandriss. Frölich, als heilender Hexer bis in Putins Reich bekannt, soll dem Russen die WM retten.

Wer, frage ich, hat nun von allen die besten Karten?

Doc Frölich zermartert sich kurz das Hirn und sagt: „Khedira, knapp vor Ihnen.“

Und ich dachte bis dahin, meine Chance sei kleiner als die einer Sau beim Metzger. Aber das ist der Vorteil des Kolumnisten: Er muss in einem Spiel nicht zwölf Kilometer rennen, sondern nur zwölf Kilometer sitzen.