Der deutsche Sport folgt der Spaßgesellschaft: Locker verlieren ist lustiger als sich schwitzend quälen. So ein Quatsch. Wann kommen die Leistungsträger endlich wieder so sympathisch rüber wie die Leistungsträgen?

Stuttgart - In London lief vor ein paar Tagen der Amerikaner Manteo Mitchell mit angebrochenem Wadenbein unter Schmerzen die 400 Meter zu Ende, weil er seine Staffel nicht im Stich lassen wollte, und hinterher wurde er von weiten Teilen der Menschheit für seinen Mut, sein Verantwortungsbewusstsein und seinen Willen bewundert.

 

Hier bei uns?

„Krank, einfach nur krank“, urteilte in einem Internetforum angewidert ein gewisser „Mc5“ unter dem tosenden Applaus Gleichgesinnter. „Warum werden solche Psychopathen noch als Vorbilder und Helden hochgejubelt?“

Nein, keine Angst, wir wollen hier nicht bei der nacholympischen Manöverkritik über den tumben Antiamerikanismus reden – sondern über den schleichenden Verlust des deutschen Leistungsdenkens.

Olympia-Urlaub statt Trainingsqual

Die Lage ist lausig, fragen Sie Roland Matthes. Er ist der beste deutsche Schwimmer aller Zeiten, als lebende Legende thront er in der Halle des Ruhms, und tränenden Auges sagte er am Wochenende: „Ich frage mich nach dem, was ich in London gesehen habe: Leben wir Deutschen im Schlaraffenland, wo wie nur noch wie bei Max und Moritz die Hühnerkeulen in der Fresse haben und daliegen mit einem dicken Ranzen, oder sind wir noch heiß auf etwas?“

Damit das jetzt keiner grundfalsch versteht: es geht hier nicht um die Medaillen, sondern um den Anspruch, den eigenen Schweinehund zu besiegen – also um die Freiheit, sich im Training zu quälen. Matthes ärgert sich über jene deutschen Mitschwimmer und Mitläufer, die sich nicht zerreißen, sondern verreisen, nach dem olympischen Urlaubermotto: „Wunderbar, jetzt kriege ich tolle Klamotten und mache mir dort vierzehn Tage einen Bunten.“

Warum sich die Leistungsbekämpfer rächen

Britta Steffen hat, nachdem sie im Planschbecken baden ging, ihr Wohlgefühl in die inzwischen hinlänglich bekannten fröhlichen Worte gepackt: „Den Weltfrieden habe ich damit ja nicht gefährdet, und ich freue mich einfach, wie wahnsinnig schnell die anderen sind.“

Das hätte nicht viel philosophischer aus dem Feuilleton kommen können – jedenfalls aus jener Ecke der nachdenklichen Debattierzirkel, in der noch Coubertins olympischer Aufruf zum schweißfreien Chillen gilt, und wo unsere alten Mitschüler sitzen, die im Turnunterricht früher wie ein nasser Sack an der Reckstange baumelten, mit Muskeln, wie man sie in dieser Verkümmertheit sonst höchstens an Golfschlägern sieht.

Jetzt rächen sie sich. Sie freuen sich für jeden, der im Vorkampf scheitert, denn das macht uns Deutsche im Ausland endlich sympathisch. Wenn es nach diesen Leistungsbekämpfern ginge, würden wir zu Olympia nur noch mit Paddelboot und Schlauchboot erscheinen. Schon der „Deutschlandachter“ klingt ihnen zu militant aggressiv, er könnte der Vorbereitung eines Angriffskriegs dienen.

Appelle eines schlappen Reckabhängers

Einer hat dieser Tage in einer großen Zeitung sein Plädoyer für das Leistungsverweigerungsrecht so begründet: „Lasst uns stolz darauf sein, den guten Verlierer zu geben. Als Vorbilder für die Jugend sind Sportler doch viel angenehmer, die fünf mal gerade sein lassen, die für Babypause und Elternzeit ein Höhentraining absagen, nach dem Training ihr Bierchen nehmen und überhaupt öfter blaumachen und sich coolen Hobbys widmen.“

Vergesst den Leistungswahn, appelliert dieser schlappe Reckabhänger und hält es für wichtiger, „dass wir als Partyland weltweit führend sind, die entspannte Hauptstadt vorneweg.“ Er meint das entspannte Berlin, das seinen Flughafen nicht fertig kriegt, weil es fünf gerade sein lässt, bei coolen Bierchen öfter mal blaumacht und es mit Conny Froboess hält, die als sorgenlose Göre geträllert hat: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nischt wie raus zum Wannsee.“ Wir gehen baden, aber das flott und charmant. Nur der Oberste unserer Olympioniken will dazu nicht lachen. Mit einem Kloß im Hals hat Doktor Thomas Bach über die Selbstzufriedenheit unserer Spaßgesellschaft gesagt: „Wir betrachten in Deutschland Leistung argwöhnisch.“ In der Tat war das Erbringen von Leistung in Tateinheit mit Willensstärke und Schaffenskraft früher mal populärer.

Warum wir Leistungsträger brauchen

Sport, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft: die Leistungselite, sagt Bach, kommt überall in der Anerkennung zu kurz – und ganz schlecht zu sprechen ist er auf die 68er. Die haben, zückt der alte Goldfechter aus Tauberbischofsheim den Degen, das generelle Infragestellen der Leistung auf die Spitze getrieben und ersetzt durch ihren Aufruf zum zwanglosen Kindergeburtstag nach der Devise: „Federball, aber ohne zählen.“

Die logische Folge: wir spielen inzwischen sogar schon Fußball, ohne zu siegen.

Spaßfußball. Schöner denn je. Vorgeführt von virtuosen Ballkünstlern, unter Verzicht auf ein paar alte, deftige deutsche Tugenden. Mit denen haben wir zwar noch gewonnen, aber bei Weitem nicht so schön, wie wir jetzt beim Tiki-Taka-Duell mit den leichtfüßigen Südeuropäern immer verlieren, jedenfalls gilt auch da frei nach Britta Steffen das Motto: „Ist es nicht wahnsinnig schön, den tollen Spaniern und Italienern im Endspiel zuzuschauen?“

Kurz: hat Spaß gemacht.

Aber wie weit geht dieser Spaß? Wann ist Schluss mit lustig? Wann kommen die Leistungsträger wieder so sympathisch rüber wie die Leistungsträgern? Die erste Gegenbewegung der Leistungskanonen formiert sich: Matthes, Bach oder Sammer im Fußball. Bevor der Flaschengeist vollends zum Zeitgeist wird, wollen sie den „Reset“-Knopf drücken und dort wieder ansetzen, wo Felix Magath vor langer Zeit gesagt hat: „Qualität kommt von Qual.“

„Krank, einfach nur krank“, wird „Mc5“ an der Stelle kopfschüttelnd sagen. „Warum werden solche Spießer als Vorbilder hochgejubelt?“

Die Antwort ist brutal: Wir brauchen sie gegen „Mc5“ und die vielen Sesselfurzer, die nur noch auf dem Sofa vor ihrem Laptop hocken und googeln müssen bei der Frage, ob eine Reckstange aus Sperrholz, oval oder sechseckig ist.